Ratten im Haus

5 Tage lang hatten wir Ratten im Haus. In der Küche. Im Käfig.

Oreo und Cookie hiessen unsere männlichen Gäste, die wir für Tonis Klassenkameradin und Freudin hüteten. Und sie waren super süss. Kuschelig, schmusig, nach einigen Tagen zutraulich. Sie krabbelten auf Theo und Toni herum, frassen uns Birne und Apfel aus der Hand. Wirklich zum Verlieben. Und das, obwohl ich erst mittel enthusiastisch war.

Wäre da nicht dieser Schwanz. Dieser lange, kleinfingerdicke, nackte Schwanz. Den muss man echt ausblenden. Der zerstört den Gesamteindruck.

Aber sonst kann ich mich an kleine Mitbewohner im Käfig gewöhnen. Jedenfalls für 5-Tagesintervalle. Danach sollte nämlich mal der Käfig grundgereinigt werden. Das überlass ich gern den Besitzern.

Frühling im Herbst

30 Jahre friedliche Revolution. Wie in jedem Jahr, feiere ich im Herbst meine 2 wichtigsten, säkulären Feiertage. Den Tag der deutschen Einheit am 3. Oktober und die Maueröffnung am 9. November. An beiden Tagen verspüre ich nur eins: Pure Dankbarkeit, Erleichterung, Freude.

Mir wird immer wieder bewusst, welche immense Bedeutung 1989 für mein Leben hat. So vieles hätte ich nicht erlebt ohne deutsche Einheit. Hätte nicht in Kanada gelebt, vielleicht in Rumänien, sicher nicht in Griechenland und schon gar nicht heute in den USA. Ich hätte Philipp nicht getroffen und die meisten meiner Freunde nicht. Ich hätte keine 2. Heimat in München und Hamburg gefunden und keine 3. im Allgäu.

Die Kinder finden es faszinierend, dass Papa und Mama früher in 2 verschiedenen Ländern gelebt haben. „Papa, bist du über die Mauer geklettert zu Mama?“, fragen sie. Oder: „Mama, warst du so richtig eingesperrt?“ Und Toni philosophiert darüber wer sie wäre, wenn es noch immer 2 Mal Deutschland gäbe. „Also, Theo und ich wären natürlich trotzdem hier. Nur Papa wäre nicht in unserer Familie.“

Am 8. November ludt die internationale deutsche Schule im nächsten Ort zum Laternenfest samt Revolutionsgedenken ein. Kerzen und stürzende Mauern, sehr passend. Hier gab’s natürlich elektrische Sicherheitsteelichter im Wachslook. Wir zogen einmal um den Block, sangen ein paar Lieder. Leider waren wir zu spät zum Laterne basteln gekommen, so musste ich mal nicht 2 Laternenstäbe tragen für die Kinder. Auch schön. Theo war völlig sprachverwirrt. „Ich kenne die Lieder doch nicht af Englisch“, sagte er. „Kein Problem, wir singen ja auch alle auf Deutsch.“

Danach dann die Presentation zum Mauerfall. Jugendliche Deutsch-Amerikaner haben versucht, zu erzählen, was passierte. Grandios. Hier ein paar Highlights.

Wichtige Leute waren mit an der Revolution beteiligt.

Ronald Reagan, der 1987 Michael Gorbatschow erklärte: Reiss die Mauer ein.

Michael Gorbatschow, der 2 Jahre später endlich auf den amerikanischen Bruder hörte

Irgendein amerikanischer Rockstar, der 1988 in Berlin von einstürzenden Mauern sang.

Und natürlich Udo Lindenberg mit seinem Sonderzug nach Pankow. Da hätten wir spontan eine Karaokeveranstaltung draus machen können. So viele Eltern summten und sangen mit.

Helmut Kohl? Die Ostdeutschen? Ungarn? Genscher? Kirchen? Keine Rede davon.

Und dann der beste Satz ganz am Ende: „1989 zeigte, dass der Kommunismus keine Chance hat in dieser Welt!“ Ausrufezeichen. Generell. Ich bekam einen kurzen Lachanfall. Kalter Krieg lässt grüssen.

Tja, Geschichtsschreibung ist eben immer Gegenwartsdeutung. Was hier bewiesen wurde.

Frühlingshafte Temperaturen sind übrigens wirklich gerade.

Halloween für Erwachsene im Geisterhaus

Um Halloween schiessen die Geisterhäuser hier aus dem Boden. So eine Art Geisterbahn. Nur schlimmer. Weil man nämlich selbst durchlaufen muss. Also wie damals, als ich als Kind mit meinem Bruder auf dem Rostocker Weihnachtsmarkt durch die Kindergeisterbahn lief.

Nur, dass sich damals mein Bruder an mich klammerte und ich mutig voranschritt. Ich wusste ja schliesslich, dass das alles nicht echt war.

Diesmal wusste ich es auch. Half aber nichts. Mein Verstand sagte mir: Ist alles nur Requisite. Die Schauspieler dürfen mich nicht anfassen (hatte mich extra beim Einlass vergewissert). Wir sind eigentlich in einem Einkaufszentrum. Und ausserdem ist das hier Amerika, die haben panische Angst vor Klagen. Da passiert garantiert nichts.

Und trotzdem dachte ich zwischenzeitlich, ich würde die 25 Minuten nicht überleben ohne mich heiser zu schreien und in Ohnmacht zu fallen. Psychologisch habe ich viel über mich gelernt.

Meine 1. Angstbewältigungsstrategie war der Realitätscheck. Darf mich jemand berühren? Wird sich der Boden bewegen? Bei näherem Hinsehen sind die Masken ziemlich übertrieben. War ein guter Versuch. Aber ich hab mich trotzdem fürchterlich erschreckt über all die aus dem Nichts auftauchenden Monster und auf dem Boden kriechenden Wesen.

2. Strategie: Die Menschen/ Schauspieler/ Gruselwesen vor denen mir bange ist ansprechen. Einem maskierten Typen erklärte ich halb selbstbewusst: „Ich weiss, dass du mich nicht anfassen darfst.“ Aber das war ihm total wurscht. Er blieb trotzdem gefühlt 1 Millimeter von meinem Gesicht entfernt mit seiner haarigen Schreckensmaske.

3. Strategie: Vorsicht. Wir haben wahrscheinlich den absoluten Zeitrekord gebrochen, denn ich bin durch die beiden Häuser im Schneckentempo gegangen. So langsam, dass sich die Leute hinter uns stauten. Und die Armen sich viel weniger gruselten als wir. Zitat des Ehepaares hinter uns am Ende: „Das war überhaupt nicht schlimm. Weisst du noch, bei dem in Tennessee, da sind wir fast gestorben vor Angst.“ Bin ich froh, dass ich da nicht war.

4. Strategie (die keine ist, sondern eher ne Reaktion): Mich an Philipp klammern. Von hinten, damit er zuerst erschreckt wird. Jedes Mal, wenn Philipp aufschrie, schloss ich vorsichtshalber die Augen. Hab dadurch viel weniger Angst gehabt (und auch nur die Hälfte der Dinge gesehen… aber das war es wert). Leider hat einer der Schauspieler mich durchschaut und es einmal geschafft, Philipp so zu erschrecken, dass er einen Satz nach vorn gemacht hat. Und plötzlich war da ein Monster zwischen Philipp und mir und ich schrie nur noch nach Philipp und das Monster blieb und Philipp kam nicht zu mir und ich nicht zu ihm. Ein absoluter Albtraum von ca. 3 Sekunden, einer gefühlten Ewigkeit.

Warum wir uns das angetan haben? Weil ich Karten gewonnen hatte (hätte sonst $26 pro Person gekostet). Weil es super amerikanisch ist und ich noch immer im Austauschschülermodus lebe und alles ausprobieren will. Weil ich es jetzt von meiner Liste abhaken kann.

In der Nacht hatte Philipp Albträume. Ich nicht. Beschützer sein hat seinen Preis.

Leah und Theo – die Suche nach einer Wohnung geht weiter

Vor einigen Wochen habe ich euch von Leah und Theo erzählt. Unsere Nachbarn, die im Zelt auf unserem Lieblingsspielplatz wohnen. Seitdem vergeht kein Tag, an dem ich nicht in ihrem Sinne herumtelefoniere oder Emails schreibe oder Menschen von ihnen erzähle.

Bisher ohne echten Erfolg. Die beiden haben immer noch keine Wohnung und zu allem Übel auch noch ihren Wohnungsgutschein gestrichen bekommen. Weil sie ein Obdachlosenheim und eine schimmelige Wohnung abgelehnt haben. In dem Falle wird der Gutschein noch einige Wochen aufrecht erhalten und dann einer anderen Familie gegeben. Pech gehabt. Im Moment fühlt sich niemand mehr von der Stadt Berkeley zuständig.

Aber wir sind dran. Ein anderer Nachbar und ich sind die Task Force. Er telefoniert in Berkeley herum, ich vernetze uns mit Nachbarn und Menschen weltweit, die helfen wollen. Leah und Theo wohnen seit 2 Wochen in einem Motel, das wir aus Spenden finanzieren. Wer helfen will, hier ist der Link:

https://www.gofundme.com/f/a-home-and-a-future-for-7yearold-and-his-mom?utm_source=customer&utm_medium=copy_link&utm_campaign=p_cf+share-flow-1

Es ist ein echter Kampf, leider. Viele Vermieter wollen nicht an Obdachlose und schon gar nicht an behinderte. Weil die ja dann den ganzen Tag zu Hause seien. Es gibt viele Organisationen, die sich für Obdachlose engagieren. Aber irgendwie meist auf ner anderen Ebene. Entweder sie verteilen Essen und Kleidung oder sie kämpfen für bessere Rechte. Beides ist wichtig, aber ne Wohnung auch. Und ein Anwalt. Fürs Erstreiten eines Wohnungsgutscheines und im Sorgerechtstreit um Theo. Denn der Vater hat anscheinend sein Besuchsrecht erwirkt und will nun das allgemeine Umgangsrecht, vielleicht sogar das Sorgerecht?

Es sind so viele Baustellen, dass ich manchmal in den letzten Wochen echt mutlos war und kurz vor dem Aufgeben. Aber dann kamen Leute auf mich zu, die helfen wollten. Ein Gemeindemitglied, das mich jeden Sonntag nach den beiden fragt und regelmässig spenden will. Wildfremde Menschen, die von den beiden hören und Geld geben wollen. Innerhalb von einer Stunde haben gerade 4 Menschen auf GoFundMe $400 gespendet. Das macht Mut.

ABER: so wichtig Geld ist, es reicht leider nicht. Denn es zuabert keine Wohnung her. Selbst AirBnb-Gastgeber wollen nicht an die beiden vermieten. Obdachlos zu sein stigmatisiert. Das wird mir gerade so richtig klar. Und es macht mich wütend. Was gut ist, denn Wut ist in dem Falle mal der richtige Antrieb!!!

„Habe ich Sie richtig verstanden?“ – Kundenservice

Heute hab ich 2 Stunden vertelefoniert und nichts erreicht. Es ging um Krankenkassenzeug. Die lästige neue Brille, durch die ich nicht gut sehen kann. Und Zahnarzttermine.

  1. Anruf: ein Roboter geht ran. „Bitte nennen sie ihren Nachnamen und buchstabieren sie ihn dann.“ – „hm, Pelz“ – „Ihr Name ist N? Hab ich das richtig verstanden?“ – „Nein.“ – „Ok, mein Fehler. Verzeihen Sie bitte. (Nö!) Bitte buchstabieren sie noch einmal.“ Diesmal klappt es, aber wir spielen das Spiel noch für den Vornamen und das Geburtsdatum. Bis endlich ein echter Mensch an die Strippe kommt. Der so Seelsorgequatsch sagt wie: „Sie müssen selbst wissen, was die beste Lösung für sie ist. “ – Ich: „Ich möchte eine Brille, durch die ich sehen kann.“ – Er: „Aber welche Lösung schlagen sie vor.“ – Ich: „Dass ich bei einem Dritten meine Brillengläser überprüfen lasse, um rauszufinden, wer Recht hat (Optiker oder Augenarzt).“ – Er: „Ja, das müssten sie dann selbst zahlen.“ – Ich: „Und was schlagen Sie vor?“ – Er: „Ich kann sie nur über ihren Vertrag informieren. – Ich: „Und bei wem kann ich mich beschweren?“ – Er: „Bei mir.“ – Ich: „Aber sie können mir nicht helfen?“ – Er: „Sie müssen selbst wissen, was das Beste ist.“ – Ich: „Ok, ich meld mich wieder.“ – Er: „Füllen sie doch bitte noch unsere Umfrage aus nach Ende des Telefonats.“ Hab ich gemacht, war nicht gut für ihn.

2. Anruf: Ich will Vorsorgetermine beim Zahnarzt ausmachen. Für die Kinder und mich. Die Dame im Call-Center spricht schlechteres Englisch als ich. Und unsere Akzente verstehen sich nicht gut. So muss ich alles 4x buchstabieren und sie muss alles 2x wiederholen. Irgendwann hat sie alle Informationen. 3 Termine sind gebucht. Bis ich frage, ob die Kinder auch beim Kinderzahnarzt angemeldet seien? Das weiss sie nicht. Kann es auch nicht rauskriegen. Aber zur Arztpraxis könne sie mich durchstellen (30 Minuten nach Beginn des Telefonats und nach exakt 1 Terminabsprache halte ich das für eine super Idee.). Naiv wie ich bin. In der Arztpraxis geht sofort eine Dame ran und ruft: „Kann ich sie kurz in der Leitung lassen?“ – Ja, antworte ich Dummchen. Denn das war ihr letztes Wort. 30 Minuten höre ich mir Werbungen für strahlendes Lächeln und Zahnspangen und regelmässige Zahnarztbesuche mit der gesamten Familie an. Dann reicht es mir. Freitag geh ich zu meiner Kontrolle. Vielleicht erreiche ich ja vor Ort mehr.

Brille futsch – Chaos pur

Ich war bei meinem ersten Chorwochenende. Es war traumhaft. Eine Jugendherbere direkt am Pazifik, nette Leute, abends Wein- und Schokoladengelage samt Spielen.

Irgendwann wankte ich ins Bett, noch immer glücklich. Und überlegte noch, wo ich meine Brille am besten hinlegen sollte. Entschied mich gegen meinen Rucksack. Die über mir Nächtigende könnte ja aus Versehen am falschen Ende runterkrabbeln und versehentlich draufsteigen. Letztlich legte ich die Brille so hoch wie möglich auf einen Sachenstapel. Wenn alles fällt, fällt die Brille sanft. Dachte ich, legte mich und schlief.

Wachte am nächsten Morgen auf. Fand meine Brille nicht. Also tappte ich umher und fragte schliesslich in den Raum. Wie von der Tarantel gestochen, öffnete daraufhin ein Mädchen das Fenster und sprang hinaus. Zurück kletterte sie mit meiner Brille in der Hand. Ein Glas war zersprungen, der Rahmen in der Mitte angeknackst, alles verbogen.

Ich stand unter Schock. Hatte keine Kontaktlinsen dabei. Musste eine Geburtstagseinladung absagen und konnte keine Robben bewundern. Was war passiert? Dem Mädel war nachts kalt geworden. Ohne auf den Sachenhaufen zu achten, hatte sie einfach das Festern zugezogen, von oben nach unten. Komischerweise waren die Klamotten ins Zimmer gefallen, meine Brille aus dem Fenster. Leider offensichtlich nicht sofort, denn den Sturz aus dem Erdgeschoss hätte sie überlebt. Stattdessen muss erst noch das Fenster auf sie raufgerumst sein.

Also verbrachte ich den Sonntag halbblind mit geliehenen Brillen von Chormitgliedern, die entweder zu stark oder zu schwach waren. Zu Hause angekommen fiel mir ein: Hey, du bist ja in Amerika. Nix mit Sonntagsruhe. Also ab zum Optiker, Brille aussuchen. Termin für den Augenarzt am nächsten Tag ausgemacht, Kontaktlinsen geholt. Von einer Nachbarin eine Brille mit fast meiner Stärke bekommen für morgens und abends. Sehr süss war meine Nachbarin Alice. Sie gab mir auch eine ihrer Brillen. Obgleich sie weitsichtig ist. Aber die Geste war so rührend, dass ich nicht ablehnen konnte.

Alles schien einfach und perfekt, bis meine Brille ankam. Ich konnte nicht wirklich mit ihr gucken. Alter Brillenprofi wie ich bin, hab ich mir erstmal nichts weiter dabei gedacht. Man muss sich ja immer erst gewöhnen. Nach 5 Tagen reichte es mir. Also wieder zum Optiker. Der mass nach. Alles so wie es sein soll. Passte den Rahmen besser an. Nochmal 3 Tage gewartet, dann ab zum Augenarzt. Der stellte fest: Die Brille hat 0,25 Dioptrien weniger als das Rezept. Allerdings hatte die Ärztin auch meinen Astigmatismus nicht richtig gemessen.

Nun hab ich ein neues Rezept und muss mich mit dem Optiker herumschlagen, wer die Rechnung übernimmt. Ich jedenfalls nicht. Und bis dahin seh ich nur so mittel scharf. Nehmt euch in Acht, liebe Mitbewohner!

Halloween – die fünfte Jahreszeit

Vergesst norddeutschen Fasching. Jetzt wird Halloween gefeiert. Seit Wochen zählen die Kinder in der Schule die Tage. Jeden Tag sind mehr Häuser in Berkeley aufwendig dekoriert. Kürbisse sind ein Muss. Skelette baumeln umher, Geister schweben in den Bäumen. T&T sind hellauf begeistert. Ich auch, denn das Rad fahren ist deutlich weniger quengelig seitdem. Zu viel gibt es zu entdecken.

Zum Glück ist direkt gegenüber von unserem Haus ein „haunted“, also verhextes Haus. Ein Gespenst fährt auf einer Leine herum wie Findus, als er den Fuchs verscheuchen will. Dazu dampft es aus einer Nebelmaschine (die dank der Waldbrände gar nicht benötigt wird im Moment). Eine Riesenspinne springt dem Besucher entgegen. Eine Vogelscheuche verteilt Süsses, nur um im nächsten Moment schreiend aufzuschrecken. Toni musste mich zwingen, um in die Schale zu greifen.

Natürlich bleibe ich dem Pelzschen Motto treu und kaufe keine Deko. Aber 2 Spinnennetze haben wir schon geschenkt bekommen und eine Dose blaues Spray für die Büsche. Dazu haben die Kinder aus Pappkarton Gespenster ausgeschnitten und mit Klopapier beklebt. Die baumeln jetzt im Fenster und gruseln die Eichhörnchen im Baum. Theos beste Idee: Er will zu Halloween Hühnerkeulen essen und dann die Hühnerknochen an sich ranbinden. Wahrlich schauderlich. Und stinkend…

Das Schöne ist: Viele Erwachsene freuen sich genauso aufs Süssigkeiten verteilen, wie die Kinder aufs Sammeln. Unsere Nachbarin klagte, letztes Jahr seien kaum Kinder gekommen. T&T sollten unbedingt bei ihr klingeln.

Auf der Nachbarschafts-App Nextdoor wird fleissig diskutiert, ob und welche Süssigkeiten man verteilt und was es für Alternativen gibt (Aufkleber, Tattoos, Obst). Auf einer interaktiven Karte können sich teilnehmende Häuser registrieren, damit niemand an der falschen Tür klingelt.

Und dann natürlich die wichtigste aller Fragen: Was soll man anziehen? Familien setzten es sich zum Ziel, passend verkleidet zu sein als „Incredible“-Familie. Ein befreundeter Vater bastelt riesen Augen aus Latex für seinen Sohn. Es sieht fantastisch aus. Der Junge kann das Kostüm leider kaum schleppen.

Halloween ist nicht nur ein Tag. Schon eine Woche vorher ludt Philipps Professorin zur Party zu sich nach Hause ein. Inklusive Kostümwettbewerb (von dem wir nichts ahnten). Eine Doktorandin kam als professorale Doppelgängerin und gewann. Ein Junge aus Theos Klasse gewann eine Halloweenparty und lud die gesamte Klasse ein. Karter ist gelähmt und die „magic wheelchair foundation“ bastelte ihm ein Raumschiffkostüm, das seinen Rollstuhl mit einbezieht. Fantastisch. Die Organisation wird von einer Kunstlehrerin geleitet. Das Kostüm ist das Projekt einer 11. Klasse.

Natürlich müssen Kürbisse geschnitzt werden. Mit Freunden (und Cider für die Mamas). Sonst macht es keinen Spass. Herausgekommen sind gruselige Masken mit Ohren und Augenbrauen plus Theos Namen (Theo) und 3 Gesichtern (Toni). Wegen der vorherrschenden Hitze können wir sie erst am 31. rausstellen. Sonst vergammeln sie.

Zu Halloween selbst gibt es in der Schule dann eine grosse Parade in Kostümen. Allerdings wurde extra darauf hingewiesen, keine Spielzeugwaffen mitzubringen (sorry, Theo) und keine kulturell unpassende Kleidung zu tragen (wie Indianerkostüme, sorry, Theo).

Und danach haben T&T die Qual der Wahl zwischen 3 Halloweenparties bei Freunden, bevor es zum grossen Suessigkeitenumzug geht. Am nächsten Tag kann, wer will, seine Süssigkeiten zum Zahnarzt bringen. Dort werden sie gewogen und pro Pfund abgekauft. Das rettet Zähne. Die Süssigkeiten werden dann an die Armee gespendet!

Einzige Sorge dieses Jahr: Eventuell muss alles Herumgelaufe am 31. ausfallen. Wenn nämlich die Luftwerte zu schlecht sind und wir unsere Kinder nicht aus dem Haus lassen können. Die Feuer lodern in nicht allzu weiter Entfernung (45 Kilometer) und der starke Wind bläst uns alles um die Ohren. Es riecht wie am Lagerfeuer. Meine Lungen schmerzen jetzt schon nach 24h und der Reizhusten nimmt zu…

Aufruhr der Lehrer

Aus Sorge um die Sicherheit meiner Kinder ging ich zur Hauptversammlung der Schulbehörde. Angesetzt war sie für 19.30 bis 22.00 Uhr. Wer Rederecht beantragen will, muss das zwischen 17.30 und 19.00 tun. Also waren eine Freundin und ich 17.45 dort. Und wurden von Lehrern empfangen, die eine wunderschönes Protestbild auf den Gehweg malten. Wir füllten unsere Redekarten aus und gingen Tacos essen. Insgeheim rechnete ich nicht damit, dran zu kommen. Denn ich würde die Sitzung eh nach 15 Minuten verlassen müssen. Um ins Theater zu gehen. Ist ja auch wichtig. (Und hatte ich gebucht, bevor ich vom anderen Termin wussten.)

In der Siztung ging es nicht nur um die Zukunft unserer Grundschule. Sondern auch um die Gehälter der Lehrer in Berkeley. Nur ein Teil der Lehrerschaft ist fest angestellt. Andere erhalten jährlich befristete Verträge. Natürlich ohne Gehalt während der Sommerferien… Allein das führt schon zu prekären Lebensbedingungen für viele Lehrer. Viele können es sich schlicht nicht leisten, diesen Job zu machen. Der durchschnittliche Verbleib im Beruf liegt bei Berufseinsteigern im Moment bei 5 Jahren. Man muss schon Idealist sein.

Zum Glück ist Berkeley eine Stadt der Idealisten und bisher herrscht kein Lehrermangel. Aber die befristeten Verträge von hunderten Lehrern sind immer noch nicht unterschrieben. Obwohl sie seit 8 Wochen wieder arbeiten.

Und so wurde die Sitzung mit Sprechchören eröffnet, begleitet von einer Blaskapelle. „Take it up, take it down. Berkeley is a Union town“, hiess es. Oder: „We can’t live of praise. We nee a raise.“ (Wir können nicht vom Lob allein leben, wir brauchen eine Gehaltserhöhung)

Erster Tagesordnungspunkt war die öffentliche Anhörung. Erste Sprecherin: Ich. Ich fiel aus allen Wolken, musste mich erstmal orientieren. Wo ist das Mikro? Über mir ein riesiger Bildschirm, denn die SItzung wurde live übertragen auf der Website des Schuldstrikts. Naja, sagen wir es so: Ich habe die Rolle der emotionalen, besorgten Mutter übernommen. Aus purer Aufregung. Meine Mitstreiter konnten dann die Fakten liefern. Merke: nächstes Mal Notizen machen. Es könnte sein, dass ich wirklich drankomme.

Erdbeben

4 Erdbeben gab es, seit wir hier leben. Das letzte war so heftig, dass die Fensterscheiben klirrten. Wir waren gerade ins Bett gegangen, als es erst schepperte und dann bebte. Bestimmt 7 Sekunden lang. Wir überlegten, was wir tun sollten? Unser Bett ist zu niedrig, um drunter zu kriechen. Die Kinder schliefen tief und fest. Dann war es vorbei. Ich guckte auf mein Handy. Natürlich fast abgeladen um die Uhrzeit. 22.30 Uhr wäre wirklich unpraktisch für das nächste grosse Beben. Am nächsten Morgen hab ich erstmal die Ersatzladebatterien eingestöpselt. Nun sind wir wenigstens ein bisschen vorbereitet.

Wissenschaftler sagen, dass wir eine 50%-ge Chance haben für ein riesiges Beben bis 2037. Dass es dann sein Zentrum hier bei uns hat liegt bei 30%. Also nix genaues weiss man nicht.

Noch schlimmer als ein Beben um 22.30 Uhr wäre ein Beben während der Schulzeit. Die Grundschule der Kinder liegt in den Hügeln und würde bei einem Beben ca. 6 Meter den Berg runterrutschen. Und bis zu 15m versinken. Leider liegt sie auch noch dort, wo sich der Boden in eine gelartige Masse verwandeln würde. Und die Häuser drumherum sind grösstenteils alt und fallen wahrscheinlich einfach zusammen. Unsere Kinder würden also unter der Schule begraben, den Berg runterschlittern und nicht geborgen werden können, weil der Zugang durch zusammengestürzte Häuser verbarrikadiert wäre. Herrliche Aussichten.

Der entsprechende Bericht wurde im September veröffentlicht. Die Empörung der Eltern ist riesig. Eigentlich sollte die Schule zu diesem Schuljahr umziehen, aber natürlich ist nichts fertig geworden. Ob das im nächsten Schuljahr der Fall ist, bleibt fraglich.

Ich werde mal zur Hauptversammlung des Schuldistrikts gehen mit anderen Eltern und mich beschweren. Vielleicht bringt’s ja was. Ansonsten wird es sein wie immer. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder auf Privatschulen in Berkeley, andere werden umverteilt in überfüllte Klassenzimmer und der Rest bleibt. Und hofft. Auf ein Erdbeben zwischen 6.30 Uhr und 7.30 Uhr oder zwischen 15.00 und 20.00. Nachts ist halt auch blöd, wenn es plötzlich zappenduster ist.

Wie du mit deinem Kind über Rasse redest

So, jetzt ist es soweit. Ich schreibe über ein Thema, mit dem ich mich intensiv beschäftige. Seit Februar schon. Aber irgendwie wusste ich nicht, wie ich das auf Deutsch sagen soll. Für deutsche Leser.

Rassismus in Amerika ist noch immer alltäglich. Er basiert vor allem auf der Hautfarbe. Ethnische Unterschiede fallen kaum ins Gewicht. Rassismus ist in Berkeley nicht so offensichtlich. Aber auch hier schneiden die schwarzen Kinder in der Schule am schlechtesten ab. Dich gefolgt von den lateinamerikanischen. Das System fördert weisse Kultur. In vielerlei Hinsicht.

Deshalb bot Tonis Schule im letzten Jahr einen 6-wöchigen Kurs an mit dem Titel „racial equity“, ziemlich unübersetzbar, ohne dass es völlig schräg klingt. Es geht um gleiche Chancen unter verschiedenen Bedingungen für Menschen aller Hautfarben und Nationalitäten.

Ein schönes Bild dafür kam auf: Gleichheit bedeutet, allen Kindern Schuhe in derselben Grösse zu kaufen. Gleiche Chancen bedeutet, allen Kindern Schuhe in ihrer Grösse zu kaufen. Gleiche Chancen unter verschiedenen Bedingungen bedeutet, allen Kindern Schuhe zu kaufen, die ihnen passen und ihren Bedürfnissen entsprechen. Manche brauchen dann vielleicht orthopädische Schuhe gegen das zu lange Humpeln, andere brauchen Fussbäder und weiche Stiefel, um die Blasen zu heilen.

Gestern begann eine neue Runde zum Thema. Es ging um die Frage, wie wir mit unseren Kindern über Rassismus und unterschiedliches Aussehen sprechen. Eine wissenschaftliche Definition von systemischem Rassismus wurde projeziert. Unsere Aufgabe in Kleingruppen: Diese Erklärung in kindgerechte Sprache verpacken.

Meine Gruppe bestand aus einer Mutter aus China, einer aus Norwegen, einer aus Alabama, einer aus Kalifornien (verheiratet mit unserem schwarzen Elternvertreterpräsidenten) und mir.

Schnell einigten wir uns auf: „Eine Art und Weise, Menschen in Gruppen aufzuteilen. Meistens nach ihrer Haut- oder Haarfarbe. Eine Gruppe fühlt sich anderen überlegen und behandelt die anderen schlecht. Das ist niemals in Ordnung.“ Mein Zusatz, dass wir noch über die Geschichte der Sklaverei reden müssten, wurde als zu schweres Thema zurückgewiesen. Interessant, weil ich darüber mit T&T offen rede. Aber, wir sind auch keine Amerikaner. Über die amerikanische Geschichte der Sklaverei zu sprechen, lässt keine Fragen darüber aufkommen, wie unsere Vorfahren verstrickt waren.

Dann die Präsentation. Bei der die Leiterin uns daran erinnerte, dass der heutige Rassismus eben nicht ohne die Geschichte zu verstehen ist. Und dass wir die Machtfrage erklären müssen. Dass nämlich die Gruppe, die andere schlecht behandelt, davon profitiert. Und das deshalb nicht wirklich ändern will. Denn das hiesse Teilen. Da sah mich die kalifornische Mutter an und sagte: „Ja, du hast Recht. Es ist mein weisses, schlechtes Gewissen. Deshalb traue ich mich nicht an das Thema ran. Aber jetzt geh ich es an.“

Und ich überlegte, dass ich mit T&T zwar schon ab und an über den 2. Weltkrieg gesprochen habe. Aber auch noch nie explizit über den Holocaust. Zu jung? Ich glaube nicht. Sie haben hier viele jüdische Freunde und Klassenkameraden. Von einigen weiss ich, dass die Grosseltern aus Deutschland geflohen sind. Andere haben Verwandte und Freunde in den KZs verloren. Irgendwann kommt das Thema auf. Da sollten sie Bescheid wissen. So hat jedes Kind hier seine eigenen Schuldverstrickungen zu tragen. Und wir Eltern stammeln und ringen nach Worten. Zum Glück. Anders geht’s nicht.

In 4 Wochen geht’s weiter mit dem Workshop.