Diese verdammte Obdachlosigkeit

Eine Nachricht von der Sozialbeauftragten unserer Schule. Ich oeffne sie und denke, mich trifft der Schlag. Theos Freund und Klassenkamerad Karter ist seit einem Jahr obdachlos und lebt mit seiner Mama in einem Obdachlosenheim. Unfassbar. Nun haben die beiden endlich eine Wohnung bekommen, aber wegen des Virus verzoegern sich Lieferzeiten. Die Moebel sind nicht angekommen. Nun stehen die beiden in wenigen Stunden in einer leeren Wohnung.

Ich kenne Karter und seine Mama. Wir waren bei seiner grossen Halloweenparty, bei der sein Rollstuhl von einer Non-Profit Organisation in ein Raumschiff verwandelt wurde. Vor wenigen Wochen haben wir uns bei einer Geburtstagsfeier getroffen und laenger unterhalten. Danach waren wir auf der Elternparty unserer Schule. Nichts liess mich auch nur vermuten, dass die beiden in echter Not sind.

Karter ist wunderwoll. Ein froehlicher Junge, der lautstark zeigt, was er mag und was nicht. Theo liebt ihn. Er ist im Klassenzimmer der Chef mit dem Kontrollknopf (laut Theo) und liebt Kuscheltiere und Buecher. Und er ist schwerbehindert, sitzt im Rollstuhl, kann nicht sprechen oder kauen oder richtig schlucken.

Also bitte ich auf Facebook und per Mail um Hilfe. Innerhalb von 2 Stunden habe ich Kuechenutensilien, ein Luftbett, Decken und Laken organisiert und abgeholt von Freunden und Nachbarn. Die Kinder stellen aus unseren Vorraeten Essenstueten zusammen. Toni schluckt und protestiert kurz als ich ihre Lieblingskekse in eine Tuete packe. Aber dann versteht sie: Wir geben nur das Beste. Theo flitzt ins Kinderzimmer und holt 2 Kuscheltiere, Knete und eine Kreisel fuer seinen Freund.

19.30 parken wir vor der neuen Wohnung. Karter und seine Mama sind auch gerade angekommen. Alles, was sie haben passt in ein paar Taschen. Eine zweite Mutter von der Schule kommt dazu und gemeinsam tragen wir die notduerftige Einrichtung hoch. Toni und Theo helfen begeistert, schleppen Taschen, halten Tueren auf. Theo kontrolliert das Aufblasen der 2 Luftbetten, Toni raeumt mit mir den Kuehlschrank ein und spricht mit Karter. Der Arme stoehnt vor Schmerzen, er musste den ganzen Tag im Rollstuhl sitzen und will nur noch liegen.

Endlich ist seine Matratze fertig aufgepustet und bezogen. Seine Mama legt ihn ins Bett, Theo drueckt ihm die Kuscheltiere in den Arm. Und da liegt er wie im Himmel. Selig und ruhig, schaut zur Decke, schaut zum Licht. Und schlaeft ein.

Und mir kommen die Traenen (damals und jetzt beim Schreiben) vor Glueck. Das ist der schoenste Moment meiner Woche.

Im Auto sagt Toni: „Das war gerade wunderschoen, dass wir Karter helfen durften. Das war das Schoenste.“ Und Theo sieht ein, dass ich zwar mein Filmversprechen fuer den Tag gebrochen habe, aber fuer einen sehr guten Zweck. Und, dass man manchmal sogar Versprechen brechen muss, wenn Freunde unsere Hilfe brauchen.

Kurz vor dem Schlafengehen sagt Toni: „Mama, ich will jetzt 3 Sachen werden: Tieraerztin (schon seit Jahren), Kletterin (auch schon lange) und Pastorin (das wollte sie noch nie).“ Da steigen mir schon wieder Traenen in die Augen. Denn sie hat etwas sehr, sehr Wichtiges verstanden ueber meinen Beruf.

Wofuer ich gerade dankbar bin

Schlafen entsprechend meines Biorythmuses. Also von Mitternacht bis 8.00.

Das gemeinsame Fruehstueck-, Mittag- und Abendessen mit meiner Familie.

Die Nachmittage mit meinen Kindern, wenn ich fuer 2-3 Stunden das Telefon abschalte und das Leben geniesse.

Das Arbeiten im Schlafanzug.

Der freie Montag – und wir allen haben frei.

Das Liegen am sonnigen Strand mitten in der Woche.

Die vielen Telefonate mit Gemeindegliedern.

Die Begeisterung, mit der sich meine mittelalte Gemeinde (Altersdurchschnitt 70) auf Zoom-Gottesdienste und online-Treffen einlaesst.

Die Hilfsbereitschaft meiner Gemeinde: Einige Damen naehen Atemmasken fuer oertliche Krankenhaeuser, Menschen rufen einander regelmaessig an. Es wird viel gebetet.

Mit meinen Kindern Neues lernen. Das meiste sogar ohne Internet.

Beobachten, wie die Kinder immer einfallsreicher werden. Theo baut sich taeglich aus anderen Materialien Pistolen und Gewehre… naja, aber kreativ…

Nachbarschaftshilfe: eine Bekannte brachte uns selbstgemachtes Desinfektionsmittel vorbei. Eine Freundin schenkte uns eine Tuete garteneigener Zitronen.

Klopapiersolidaritaet: Als ich mich an der Kasse darueber beklage, nun schon seit 1 Woche kein Klopapier mehr zu finden in Laeden, sagt die Kundin vor mir, sie habe viel zu Hause. Ich werde wuetend und erklaere: „Wegen Leuten wie dir kann ich nun keins mehr kaufen.“ Sie erklaert, sie habe das alles schon vor Wochen gekauft, weil sie eben nur alle 6 Monate welches hole (also so wie ich). Ich entschuldige mich. Daraufhin sie: „Ach, Suesse, ich hab was im Auto. Komm mit, ich geb dir 2 Rollen.“(Also hortet sie doch :)) Und ich hab ein paar Tage mehr Zeit, um endlich welches zu kaufen.

Laengst faellige soziale Massnahmen in Kalifornien wie: Mieterschutz, sofortiges Arbeitslosengeld und Gesundheitsversicherung im Falle des Jobverlustes, die Einquartierung von Obdachlosen in billigen Hotels und der Kauf von Wohnwagen fuer Obdachlose (noch sind die meisten allerdings in ihren Zelten). Fuehlt sich fast so an, als sei Bernie Sanders schon Praesident.

Ein Schuldistrikt, der sich wirklich Gedanken um alle macht: Es gibt weiterhin kostenloses Fruehstueck und Mittagessen fuer Kinder aus armen Familien (40% der Kinder an unserer Schule). Es wurden Laptops organisiert und ausgeteilt an Familien ohne Computerzugang. Internetanbieter bieten armen Familien kostenloses Internet. Eltern spenden fuer einen Notfallfonds fuer andere Eltern. Gymnasiasten bieten kostenlose Kinderbetreuung zu Hause an fuer ausser Haus arbeitende Eltern.

Es gibt hier zwar kein verlaessliches soziales Netz. Aber die Solidaritaet ist gerade immens. Das macht unfassbar viel Mut. Wenn wir doch nur keine Notsituationen braeuchten, um uns daran zu erinnern, wie gut es tut, zu helfen.

3 Wochen Pastorin im Maerz – mehr Veraenderung geht kaum

Mein 3. Sontag in meiner eigene Gemeinde. Bisher jedesmal anders dank fortschreitender Massnahmen zur Eindaemmung des Coronaviruses.

1. Sonntag: “normaler” Gottesdienst mit grossem gemeinsamem Mittagessen im Anschluss.

2. Sonntag: 10 Leute treffen sich, um den Gottesdienst zu gestalten und zu filmen. Alle anderen schauen von zu Hause via Zoom zu.

3. Sonntag: Alle sitzen zu Hause und wir feiern einen Zoom-Gottesdienst (schade, dass hier der Witz “und es hat Zoom gemacht” nicht funktioniert).

So klingt es ganz einfach. Hinter den Kulissen ist das ein riesiger Aufwand und am Ende immer noch nicht so schoen wie “in echt”. Aber immerhinque.

Das Positive zuerst:

1. Die technisch begabten Maenner in unserer Gemeinde haben einen Heidenspass. Was fuer eine Freude, in ihre begeisterten Gesichter zu sehen, wenn alles klappt. Es gibt ein Technik-Support-Team, das “Ersteinwaehler” bei Zoom unterstuetzt und Samstagnachmittag eine Probe anbietet. Es gibt einen Host, der uns alle an- und ausschaltet, einen Chef vom Dienst, der alles im Blick behaelt und dann viele Maenner, die mit ihren Kamera- und Audioeinstellungen herumexperimentieren. Die maennliche Beteiligung am kirchlichen Leben ist mal eben ordentlich angestiegen.

2. Endlich koennen nun auch die ans Bett und an ihre 4 Waende gefesselten Menschen mit uns Gottesdienst feiern. Dass wir ploetzlich alle auf unsere Wohnungen beschraenkt sind, oeffnet unseren Blick fuer die Beduerfnisse all derer, die schon seit Monaten oder Jahren nicht mehr mit uns feiern koennen.

3. Menschen aus aller Welt koennen zusammen Gottesdienst feiern. Sprich, meine Familie schaltet sich aus Rostock und Berlin dazu, Freunde hoeren aus Deutschland und den USA zu. Interessanterweise faellt es mir leichter, amerikanische Freunde zu meinem Onlinegottesdienst einzuladen, also zu einem “echten”. Und fuer die Freunde ist die Hemmschwelle auch niedriger.

4. Ich kann liturgisch herumspielen und vor allem unseren wortgewaltigen Gottesdienst entschlacken und niemand meckert. Ist ja eh alles anders. Ich liebe es. Also gleich mal 1 von 3 Lesungen rausgeschmissen, Gebete gekuerzt, Psalm als Suendenbekenntnis genommen. Fuehle mich wie auf der Spielwiese.

Was fehlt? Der Kontakt. Ist echt komisch in eine Kamera zu predigen und niemand lacht ueber einen Witz oder nickt oder zeigt irgendeine Ruehrung. Es fehlt mir, Menschen zu umarmen und zu segnen und ihnen das Abendmahl auszuteilen. Mir fehlt das liturgische Handeln, weil ich bisher nur meine Laptopkamera nutzen kann und entsprechend statisch agieren muss.

“Viele Pfarrer sitzen in ihren Arbeitszimmern vor ihren Buecherregalen”, sagte mir ein Gemeindeglied. Ich sitze vor einer halbwegs weissen Wand in unserem Wohnzimmer. Ich hab kein Arbeitszimmer und schon gar keine Bibliothek. Die lagert in Hamburg im Keller. Die einzige Bibliothek in unserer Wohnung ist ein uebervolles Regal im Kinderzimmer. Vielleicht setz ich mich davor auf den Teppich beim naechsten Mal. Fuers Pfarrerklischee.

Das Gute: Wir haben ja noch ein paar Wochen, um uns zu verbessern. Fuer naechsten Sonntag wollen wir ein Kreuz basteln fuer die leere Wand. Freunde leihen mir eine Kamera und ein mobiles Mikro. Dann kann ich vielleicht sogar im Garten feiern oder am Strand. Mal sehen!

Immer Sonntags 10.15 kalifornische Zeit per link https://zoom.us/j/5107973724

unsere meeting ID ist 510 797 3724

The Reverend Pastor Tia

Seit Anfang März bin ich Pastorin einer richtig amerikanischen Gemeinde. Yeah! Endlich nicht nur ordiniert, sondern wirklich Chefin! (So wie man halt Chefin ist in einer demokratisch geführten Institution.) Ich arbeite 100%, bekomme 88% Gehalt und 10 Wochen Urlaub im Jahr (statt der hier üblichen 4). Dazu einen neuen Laptop und 4 Wochen Fortbildung. Also ein super Deal für alle Beteiligten.

Meine neue Gemeinde heisst Christ the King und liegt in Fremont. Das ist ca 50km entfernt von Berkeley. Also eine normale Pendelentfernung in der Bay Area. Ich kann S-Bahn fahren (und 50 min arbeiten) oder mich in den Stau stellen für 90 Minuten… Ratet, was ich mache.

Fremont ist eine Stadt, die im Vergleich zu Berkeley mega stereoty amerikanisch ist. Breite, mindestens 4-spurige Strassen durchziehen die Wohngegenden. Eine Fussgängerzone hab ich noch nicht entdeckt. Dafür aber schon mindestens drei Malls. Einkaufszenter, die alle gleich aussehen, sodass man sich auf dem Parkplatz verfährt. Verlaufen wäre schlimmer bei den Entfernungen, aber es läuft ja kaum wer. Jedenfalls nicht weiter als 100m, danach wird das Auto umgeparkt. Dass ich mehr Bahn als Auto fahren würde war für manche Gemeindeglieder eine grössere Herausforderung, als mein Immigrationsstatus.

Ca. 40-60 Leute kommen am Sonntag in den Gottesdienst. 120 Gemeindeglieder sind es offiziell. Für die Bay Area ist das eine mittelgrosse, gesunde Anzahl. Die meisten sind über 65. Aber da 70 das neue 50 ist, sind sie meisten super fit.

Nach meinem 1. Gottesdienst, gab es ein unfassbar leckeres, deutsches Buffet. Mit allem, was das Herz begehrt: Sauerkraut und Rouladen, Kartoffelsalat und Currywurst, selbst gebackene Schwarzwälder Kirschtorte und echtes Münchener Bier. Für die Kinder hatte die Gemeinde Kinderschokolade, Duplos und Hanutas aufgetrieben. Dazu süsse „Pastorinnen“: kleine Lebkuchenmännchen mit weisser Halskrause Hamburger Art. Sieht aus, als ob sich das Männchen, respektive die Pastorin, einen Strick genommen hätte. Aber davon bin ich weit entfernt.

1 Woche Homeschooling

Was ich letzte Woche gelernt habe, als ich Mama und Lehrerin und Pastorin war (und das Homeschooling-Element nicht besonders gut beherrschte im Sinne von mit meinen Kindern an einem Tisch sitzen, sie unterrichten und beaufsichtigen). Zitat Toni: „Mama macht das nicht so gut. Zum Glueck haben wir Papa.“

Meine Kinder haben trotzdem oder vielleicht gerade deshalb viel gelernt in den letzten 7 Tage: Wie man Brownies macht, wie man French Toast aus trockenem, altem Brot zubereitet. Wie man Freunden eine Freude macht, indem man Hoffnungssteine ​​bemalt und vor Türen legt. Wie man mit Langeweile umgeht (heute haben sie beschlossen, eine neue Sprache zu erfinden und sprachen sie 1 Stunde lang). Wie man Teil meines Online Gottesdienstes aus unserem Wohnzimmer ist (Theo zündete die Kerze an, Toni kam kurz herein und brachte alle zum Lächeln). Wie man wirklich auf seine eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer achtet, indem man Abstand hält, selbst wenn es anderen egal ist. Wie man Karten an Leute schreibt, die man vermisst. Wie man sich um einen Freund kümmert, der Geburtstag hatte und nicht mit seinen Freunden feiern konnte, wie man Zoom-Playdates hat …
Sie lernen, dass jeder Stein ein ganzer Spielplatz sein kann und dass 2 Bäume im Minigarten das Paradies sein koennen. Sie lernen einander zu schätzen. Sie lernen (langsam) zu akzeptieren, wenn ihre Eltern beide arbeiten müssen. Wir alle lernen, uns an Zeitpläne zu halten und unsere Versprechen zu halten, wann wir Zeit miteinander verbringen sollen. So viel in einer Woche gelernt

Oh, wir bringen ihnen auch etwas Mathematik und Lesen und Schreiben bei … aber hauptsächlich, indem wir lernen, wie man Geld zählt oder wie man Backzutaten misst.

Die Kinder wählen, was sie gerne lernen würden: Heute drehte sich alles um den Fluch des Pharao. Haben sie vom Drachen Kokosnuss gelernt. Stellt sich heraus, dass er real ist. Weil es in diesen alten Gräbern einen bestimmten Pilz gibt, der Menschen ziemlich schnell tötet. Forscher vermuten, dass die alten Aegypter den extra gezuechtet haven als Alarmanlage. Ich hatte keine Ahnung.

Ist das nun akademisches Homeschooling? Keine Ahnung. Aber es macht Spaß!

Weihnachtsfeier echt amerikanisch

Meine Seelsorgeausbilderin lud unsere Gruppe Anfang Dezember zur Weihnachtsfeier zu sich nach Hause ein. Ein kleines Häuschen in einer typischen Wohngegend. Alles war festlich geschmückt, jeder Winkel dekoriert. Am Plasteweihnachtsbaum hingen gekaufte und selbstgebastelte Dekoelemente der letzten 35 Jahre. Das Propanfeuer loderte, der Hund lag auf der Couch, es war wie im Hallmark-Film.

Jeder von uns hatte ein kleines Geschenk mitgebracht und etwas zu Essen. Keine Party ohne Potluck = jeder bringt was mit. (Amerikaner sind deshalb immer etwas zurückhaltend damit, zu einer Party zuzusagen. Erst müssen sie herausbekommen, wieviel Aufwand das wirklich für sie bedeutet. Der Klassiker hier: Ach, könntet ihr bitte das Dessert mitbringen?)

Mein kulinarischer Beitrag: Kürbis-Pie mit Schlagsahne. Die wollte ich natürlich frisch schlagen. Joanne hatte aber kein Rührgerät. Weil sie nicht kocht. „Ich hab 20 Jahre lang täglich gekocht für meine Kinder, damit ist nur Schluss.“ Was tun?

Ob wir nicht ihre Nachbarn fragen könnten, ob sie uns einen Mixer leihen würden? 6 Augenpaare starrten mich an. Das mache man hier nicht. Wie ich denn auf die Idee käme? Ich erklärte, dass das in Berkeley ganz normal sei, dass ich mir so gut wie alles von Nachbarn ausleihen würde. Die Augen wurden immer grösser. Das sei dann WIRKLICH typisch Berkeley, aber nicht normal in Amerika. Sie kenne ihre Nachbarn nicht einmal. Obwohl sie seit 5 Jahren hier lebe. Bin ich froh, dass ich in Berkeley wohne.

Die Feier war trotzdem nett und das Essen gut. Auch ohne Sahne. Dafür mit heissem Apfelsaft aus echt deutschen Weihnachtsmarktglühweinpötten. Meine Supervisorin war nämlich mal 3 Jahre in Deutschland stationiert und reist seitdem mindestens 1x im Jahr zur Adventszeit nach Deutschland. Weihnachtsstimmung schnuppern und Glühwein trinken.