Ich habe gerade „Unterschiede im Roggenmehl für Sauerteigbrot“ gegoogelt. Denn natürlich haben auch wir angefangen, unser eigenes Brot zu backen. Wie quasi jeder, den ich in meiner Nachbarschaft kenne.
Das erklärt, warum a) Menschen ihre frisch zubereiteten Brote stolz auf Facebook präsentieren. Warum b) jeder jetzt einen Sauerteigstarter mit einem Namen zu Hause zu haben scheint. Unserer heißt Voldemort. Gute Wahl, weil er immer stärker und hungriger wird. Er hat auch die Fähigkeit, aufzuerstehen, wenn ich vergesse, ihn zu füttern. Die Benennung des Sauerteigs ist anscheinend ein Zeichen für eine tiefe (unbewusste) Beziehung. Wenn man ihn dann auch noch jeden Tag zur gleichen Zeit wie einen Hund oder eine Katze füttert, werde diese innige Bindung gestärkt. Ich mache beides. Es erklärt auch, warum c) ich in letzter Zeit in keinem Lebensmittelgeschäft Mehl gesehen habe.
Also googelte ich noch einmal: „Warum backen jetzt so viele Leute?“ Stellte sich heraus, dass diese Frage in den letzten 4 Wochen auch hatten und im Grunde jede Zeitung dieses Thema behandelt hat. Hier sind meine Lieblingserklärungen.
„Wir sind jetzt alle so isoliert, aber die Arbeit mit Sauerteig ist eine inhärent kollaborative Praxis“, erklärt Emily Hoven in der Washington Post. Sie hat ihre Dissertation über Sauerteig geschrieben. „Sie haben die Hefe und alle Bakterien, die das Brot mit Ihnen gemeinsam machen.“ Hinweis: Diese Bakterien sind auch schuld, wenn das Brot nicht so ausfällt, wie man es will. Es gibt also immer einen Sündenbock, perfekt!
Kochen und Backen sind weit verbreitete Methoden, um mit Angstzuständen umzugehen. Schon seit Jahrtausenden. Einen Sauerteig achtsam zu verprügeln sei super befriedigend; Mein Mann erzählt es mir immer wieder mit klebrigen Händen voller Teig. Er ist der talentierte Bäcker in unserem Haushalt. Ich genieße einfach den Geruch und Geschmack der frisch zubereiteten Brote. Mein Mann versichert mir, dass das Backen sofort Stress abbaut. Und es ist billiger und gesünder als andere Bewältigungsmechanismen. Wie Online-Shopping oder Drinks vor 17 Uhr (jeden Tag). Außerdem bereut man das Ergebnis nicht! Als Philipp den Teig sorgsam faltet, sieht es so aus, als würde er meditieren. Ein beschäftigter, konzentrierter Körper lässt unseren Geist „entspannen, sich neu gruppieren und neu konzentrieren“. Total logisch. Und Philipp ist der lebendige Beweis.
InKrisenzeiten begehren die Menschen den kreatuerlichen Komfort. Es gibt nicht viel, was so einfach, so beruhigend und so lecker ist wie frisches Brot. (Obwohl Pfannkuchen und French Toast auch nicht zu verachten sind.) Was immer dazu führt, dass ich zuviel davon auf einmal esse. Natuerlich mit Butter und wahlweise Honig oder Marmelade. „Der heilige Gral des Getreides gibt unseren Affenhirnen eine leicht verdauliche Ablenkung.“ Ist das nicht poetisch?
Und für die wirklichen Wissenschaftler unter euch (wie Physiker, Chemiker und andere kluge Leute) ist hier eine Erklärung für den erhöhten Kohlenhydratehunger in letzter Zeit: „Das Essen von Kohlenhydraten wie Brot stimuliert Insulin, was die Aufnahme des essentiellen Aminossaeure Tryptophan durch das Gehirn erhöht.“, sagt Harvey Anderson, Professor für Ernährungswissenschaften an der Universität von Toronto. „Tryptophan im Gehirn erhöht die Produktion von Serotonin, einem Neurotransmitter, der in stressigen Zeiten Ruhe und Schlaf fördert. Also, genieße dein frisches Brot, iss bloss einfach nicht das ganze Brot auf einmal. “ (Ah! Gut, dass mir das endlich mal jemand sagt nach all dem Ueberfressungsleiden.)
Zu guter Letzt ist hier meine persönliche Erklärung für das goettliche Backen meines Mannes. Es ist eine direkte Gebetserhoerung. Weil ich jedes Mal, wenn ich meine Hände wasche, das Vaterunser bete. „Gib uns heute unser tägliches Brot“, los geht’s. Und Jesus wusste definitiv, was wir in Zeiten emotionaler und finanzieller Knappheit brauchen: Etwas zu tun, etwas zu essen und sofortige Befriedigung inmitten einer nebligen Zukunft. Also gebot er uns, das einfachste und doch effektivste Seelenfutter zu essen und zu trinken, um uns an ihn zu erinnern. Brot und Wein. Guten Appetit und Prost!