Virtuelles Lernen – Ein Hoch auf die Schulen in Berkeley

Seit nunmehr 5 Wochen werden die Kinder regelmaessig, gezielt und durchdacht virtuell unterrichtet und mit Lernstoff versorgt. Und ich muss sagen, es ist fantastisch. Mal abgesehen davon, dass die Kinder wenig Lust aufs Lernen haben.

Theo hat 3x, Toni 4x pro Woche Zoommeetings mit der Lehrerin und der Klasse. In 45 Minuten schaffen die Lehrerinnen es tatsaechlich, den Kindern effektiv was beizubringen. Toni hat letzte Woche die Uhr gelernt, dazu den Laut „ph“. Sie hatte 30 Minuten Gaertnern mit Tipps fuers Beete anlegen, Insekten beobachten und Wuermer erforschen und 30 Minuten Musikunterricht samt lautem Singen, Rythmus klatschen… Theo hat alles ueber Regenwuermer gelernt, ein neues Buch gelesen und wichtige Worte wie „my“ und „hard“ schreiben gelernt.

Das klingt nicht nach viel? Nach 7 Wochen home-schooling ziehe ich den Hut vor diesen Lehrerinnen: Sie bringen den Kindern in 45 Minuten mehr bei als ich in 3 Tagen.

Richtig genial ist auch der Wochen-bzw. Tagesplan der Kinder. Dieser ist fuer den gesamten Schuldistrikt zentral gestaltet je Jahrgang. Alle Grundschullehrer arbeiten also zusammen. Heraus kommt ein Feinschmeckermenue, von dem wir uns a la carte aussuchen koennen. Taeglich gibt es eine wundervoll vorgelesene Geschichte samt Analysefragen, Sportvorschlaege wie Superhero-Yoga samt Video oder Taenze oder Fitnessplaene fuer die ganze Familie. Toni hat mich heute gezwungen, dass volle Programm durchzuarbeiten und mich lauthals angefeuert. „Mama, du kannst das, super gearbeitet. Richtig gut. Toll. Morgen wird es noch besser.“ Man merkt den amerikanischen Motivationsbombeneinfluss.

Jede Woche gibt es ein einstuendiges Kunstlernvideo mit so guter Anleitung, dass Toni mit 7 ein echtes Selbstportrait gemalt hat. Als naechstes ist das hier dran (https://drive.google.com/file/d/1ZgK3y3tBXiHOOT1uoznzNUWkMESMaiRq/view). Wer will, kann Floete lernen mit Lehrvideos. Oder Noten lesen lernen.

Die soziale Lernaufgabe der Woche lautete: In der Natur gibt es so viele tolle Farben. Denk diese Woche in deinem Tagebuch ueber Farben nach. Welche Farbe wuerdest du waehlen, um Traurigkeit zu illustrieren? Welche fuer Froehlichkeit? Fuer Frust? Fuer Aufregung? Loest eine Farbe noch andere Gefuehle bei dir aus? WOW! Ich musste fuer sowas erst ins Predigerseminar gehen. Toni und Theo lernen das mit 6 und 7!

Natuerlich darf auch Wissenschaft nicht zu kurz kommen in Berkeley. Diese Woche sollten sie ein Lichtschwert bauen (https://www.wikihow.com/Make-a-Light-Saber-Using-Everyday-Items), schliesslich ist Star Wars Woche (May the fourth be with you!) Es gibt ein ausfuerliches Matheproblem pro Woche und einige Webseiten, auf denen die Kinder Mathe und Lesen ueben koennen und die Lehrer ihre Ergebnisse dann sehen, bzw. das Lesen hoeren und kommentieren.

Jeden Freitag verschickt die Direktorin unserer Schule ein Video an die Kinder und eins an die Eltern mit ganz viel Liebe und konkreten Angeboten wie: Wenn es ihrem Kind schlecht geht, sagt mir Bescheid und ich ruf an oder komm vorbei mit viel Abstand oder schreib einen Brief. Es gibt woechentliche Lehrer-Eltern-Zoom meetings in den Klassen und ein woechentliches Counselingangebot fuer Eltern.

Und ja, alle Kinder haben Computer und Internet dank einer riesigen Investition in Leihgeraete und kostenloser Internetpakete fuer beduerftige Familien.

Unser einziges Problem ist, dass wir kaum hinterherkommen. Aber der Sommer wird ja noch lang genug bei 10 Wochen Ferien ohne Sommercamps und Urlaubsreisen…

Kinderglueck

Sollten sich unsere Kinder spaeter an eine Kindheit voller Freiheiten und unendlichem Spiel erinnern, dann dank Covid-19. Klar, in Deutschland haben sie auch gespielt ohne Ende, aber natuerlich mit Kitastruktur. Und ausserdem, wer erinnert sich schon langfristig aktiv an seine ersten 5-6 Lebensjahre?

Aber nun herrschen Bullerbue-Sommerferien-Verhaeltnisse: Ausschlafen bis 9.00. Fruehstueck mit Pfannkuchen wann immer uns der Sinn danach steht. Den Vormittag ueberstehen sie ab 9.30 Uhr einigermassen widerwillig mit Schuleinheiten. Ab 11.30 Uhr schweben sie im Spielehimmel zwischen ihren 2 Baeumen, dem voellig zugemoelten (sie sagen bespielten) Wohnzimmer, der Einfahrt, der Garage, dem Garten und rennen um den Block.

Aufmerksame Nachbarn schicken uns ab und an Standortmeldungen mit dem Hinweis „Nur damit ihr Bescheid wisst“, ansonsten haben die beiden jetzt Walkie Talkies, das hilft bei der Kommunikation auf bis zu 3 km Entfernung (mehr als 600m bewegen sie sich allerdings nicht weg bisher).

Anfangs war meine grosse Sorge, dass sie nicht genuegend Spielsachen haetten fuer wochenlanges Zuhausesein. Freunde liehen uns 4 Kisten Playmobil daraufhin. Stellt sich heraus: Die beiden spielen vorzugsweise mit Pappkartons, Erde, Stoeckern, Seilen und Steinen. Ausserdem baut sich Theo aus ALLEM Gewehre und Pistolen. Eine Kugelbahn? Yeah, das perfekte Gewehr. Der Fuss seiner Pinata, die perfekte Pistole. Eine Luftpumpe, das perfekte, na, ihr wisst schon. So geht das den ganzen Tag.

Gut, manchmal spielt Toni auch mit mir ein Gesellschaftsspiel, dankenswerter Weise. Weil ich nun mal nicht so auf Seilklettern und schiessen stehe. Also duellieren wir uns nun bei Qwirkle und Schloss Schlotterstein und Guess Who. Endlich ist es soweit und jemand spielt wieder mit mir. Wie schoen. Wozu haelt man sich schliesslich Kinder.

Geburtstagsparade und Kindertraurigkeiten

Eine Freundin wurde gestern 6! Eigentlich war eine grosse Feier geplant mit Huepfburg und Unmengen an Kuchen. Stattdessen hatten Bekannte eine kleine Parade organisiert. Die Idee: Die Geburtstagsfamilie steht am Wegrand und Freunde laufen oder radeln winkend und singend vorbei. Coole Idee. Im Fernsehen oder Internet funktioniert das auch immer perfekt.

Wir hatten eher eine Stehparade. Weil einfach alle viel zu froh waren, einander zu sehen. Also hingen wir an der Haltestelle des Schulbusses ab (den die Kinder nie wieder nutzen werden, weil ihre Schule ab Herbst zu uns in die Naehe zieht) und sangen und redeten. Erst alle brav mit Masken von Grossmama. Dann irgendwann ohne, aber natuerlich mit eingehaltenem Abstand. Selbst die Kinder koennen den inzwischen mit perfektem Augenmass. Sobald sich jemand bewegte, sprangen alle nach weg. 6 feet wird die neue Masseinheit!

Das Wichtigste am Geburtstag war auch organisiert: Wir stellten Geschenke ab, haendigten den Geburtstagseltern eine Tupperdose und bekamen eine Stunde spaeter leckere, selbstgebackene Torte mit echtem Marzipanschmuck. Dass der Papa Oesterreicher ist, schmeckte man.

Auf dem Hin- und Rueckweg zur Stehrade, kamen wir an einer von Tonis besten Freundinnen vorbei. Vor 4 Wochen hatten wir uns schon mal zufaellig getroffen und die Maedchen hatten jauchzend mit 3 m Abstand Radschlagen geuebt. Dieses Mal winkten sie einander nur zu, ohne stehenzubleiben.

Also fragte ich Toni, ob sie nicht kurz stehen bleiben wolle? Kopfschuetteln. Ich als Seelsorgerin liess natuerlich nicht locker, bis Toni erklaerte: Es macht mich einfach zu traurig, meine Freunde nur aus der Entfernung zu sehen oder mit ihnen zu telefonieren, wo ich doch richtig mit ihnen spielen will! Ja, so ist es wohl. Hoffentlich koennen die Kinder den Schalter wieder umlegen, wenn zwischenmenschliche Naehe nicht mehr gleichbedeutend mit Gefahr ist.

Theos 6. Geburtstag in Covid-Zeiten

Ich hatte mir echt Sorgen gemacht, dass dieser Tag hart werden wuerde. Immerhin ist es ein Geburtstag ohne grosse Party mit Freunden.

Als wir Theo anfingen, darauf sachte vorzubereiten, meinte er nur: Muss ich dann die Torte nur mit euch 3 teilen? Suuuper. Und die Pinata ist fuer Toni und mich? Yippieh! Er sah nur die Vorteile, also alles gut. Vor einigen Tagen begann er dann doch zu fragen, wann denn seine richtige Party stattfinden wuerde. „Wenn wir wieder andere Menschen treffen duerfen“‚, antworteten wir ehrlich. Vielleicht im Herbst?

2 Tage vorher gingen die Kinder und ich einkaufen. Ich liess mich natuerlich fuer allen Quatsch breitschlagen. Cola, Chips, Suesskram, egal. Theo hat ja hoffentlich nur einmal unter solchen Umstaenden Geburtstag.

Am Abend vorher stellte ich fest, dass wir kein Geschenkpapier hatten. Und die Laeden, in denen ich das normalerweise kaufe, sind geschlossen. Also kramte ich in meiner Ueberlebenskiste und packte alle Geschenke in Kissenbezuege. Endlich mal kein sinnloser Papiermuell. Auch schoen. Theo war es vollkommen gleich, hauptsache Geschenke.

Was er an seinem grossen Tag essen wolle? Grosse (deutsche) Pfannkuchen und Speigeleier zum Fruehstueck, dazu Cola und Chips. Mittags Huehnerbeine und Kartoffeln. Danach Eis und eine vierstoeckige Erdbeertorte von Papa. Abends Filmparty mit Popcorn. Cola natuerlich zu allen Mahlzeiten. Theos Kinderlandtraum.

Natuerlich durfte auch eine Pinata nicht fehlen. Tagelang hatte Philipp am speziellen Wunsch „zweikoepfiger Drache“ gebastelt. Die Kinder zerlegten sie innerhalb von 20 Minuten. So wenig Geschrei hatten wir noch nie bei einer Pinata, das Teilen war viel einfacher durch 2.

Sein liebstes Geschenk fand Theo letztlich selbst auf der Strasse. Eine rostige Sense! Da konnten Baukloetze und Plueschloewe und Buecher und CDs kaum mithalten 🙂

Kein echter Corona-Geburtstag ohne virtuelle Feier. Theos Lehrerin hatte die Klasse eingeladen zum Google Meeting, 15 Kinder sangen, es klang fuerchterbar (wir hoeren hier rauf und runter Zippel, das Schlossgespenst). Dann hielt die Lehrerin eine brennende Kerze in die Kamera, zaehlte bis drei und alle pusteten sie aus. Klingt voellig irre. Aber es war ruehrend und wirklich wertschaetzend.

Und sonst? Am Abend vorher rauchte unser Handmixer ploetzlich nur noch. Also schnell die Nachbarin angerufen und einen Mixer ausgeliehen. Sahnetorte gerettet.

Ueberhaupt, die lieben Nachbarn: Eine Nachbarin brachte selbstgebackene Schokokekse vorbei und ein Bild fuer Theo, eine andere schrieb mit Kreide in unsere Einfahrt „Happy birthday“. Alle anliegenden Nachbarn sagen fuer Theo und Freunde stellten Geschenke vor die Tuer. Es war wirklich ein besonderer Tag in einer besonderen Zeit.

Drachentoeter Theo

Diese verdammte Obdachlosigkeit

Eine Nachricht von der Sozialbeauftragten unserer Schule. Ich oeffne sie und denke, mich trifft der Schlag. Theos Freund und Klassenkamerad Karter ist seit einem Jahr obdachlos und lebt mit seiner Mama in einem Obdachlosenheim. Unfassbar. Nun haben die beiden endlich eine Wohnung bekommen, aber wegen des Virus verzoegern sich Lieferzeiten. Die Moebel sind nicht angekommen. Nun stehen die beiden in wenigen Stunden in einer leeren Wohnung.

Ich kenne Karter und seine Mama. Wir waren bei seiner grossen Halloweenparty, bei der sein Rollstuhl von einer Non-Profit Organisation in ein Raumschiff verwandelt wurde. Vor wenigen Wochen haben wir uns bei einer Geburtstagsfeier getroffen und laenger unterhalten. Danach waren wir auf der Elternparty unserer Schule. Nichts liess mich auch nur vermuten, dass die beiden in echter Not sind.

Karter ist wunderwoll. Ein froehlicher Junge, der lautstark zeigt, was er mag und was nicht. Theo liebt ihn. Er ist im Klassenzimmer der Chef mit dem Kontrollknopf (laut Theo) und liebt Kuscheltiere und Buecher. Und er ist schwerbehindert, sitzt im Rollstuhl, kann nicht sprechen oder kauen oder richtig schlucken.

Also bitte ich auf Facebook und per Mail um Hilfe. Innerhalb von 2 Stunden habe ich Kuechenutensilien, ein Luftbett, Decken und Laken organisiert und abgeholt von Freunden und Nachbarn. Die Kinder stellen aus unseren Vorraeten Essenstueten zusammen. Toni schluckt und protestiert kurz als ich ihre Lieblingskekse in eine Tuete packe. Aber dann versteht sie: Wir geben nur das Beste. Theo flitzt ins Kinderzimmer und holt 2 Kuscheltiere, Knete und eine Kreisel fuer seinen Freund.

19.30 parken wir vor der neuen Wohnung. Karter und seine Mama sind auch gerade angekommen. Alles, was sie haben passt in ein paar Taschen. Eine zweite Mutter von der Schule kommt dazu und gemeinsam tragen wir die notduerftige Einrichtung hoch. Toni und Theo helfen begeistert, schleppen Taschen, halten Tueren auf. Theo kontrolliert das Aufblasen der 2 Luftbetten, Toni raeumt mit mir den Kuehlschrank ein und spricht mit Karter. Der Arme stoehnt vor Schmerzen, er musste den ganzen Tag im Rollstuhl sitzen und will nur noch liegen.

Endlich ist seine Matratze fertig aufgepustet und bezogen. Seine Mama legt ihn ins Bett, Theo drueckt ihm die Kuscheltiere in den Arm. Und da liegt er wie im Himmel. Selig und ruhig, schaut zur Decke, schaut zum Licht. Und schlaeft ein.

Und mir kommen die Traenen (damals und jetzt beim Schreiben) vor Glueck. Das ist der schoenste Moment meiner Woche.

Im Auto sagt Toni: „Das war gerade wunderschoen, dass wir Karter helfen durften. Das war das Schoenste.“ Und Theo sieht ein, dass ich zwar mein Filmversprechen fuer den Tag gebrochen habe, aber fuer einen sehr guten Zweck. Und, dass man manchmal sogar Versprechen brechen muss, wenn Freunde unsere Hilfe brauchen.

Kurz vor dem Schlafengehen sagt Toni: „Mama, ich will jetzt 3 Sachen werden: Tieraerztin (schon seit Jahren), Kletterin (auch schon lange) und Pastorin (das wollte sie noch nie).“ Da steigen mir schon wieder Traenen in die Augen. Denn sie hat etwas sehr, sehr Wichtiges verstanden ueber meinen Beruf.

1 Woche Homeschooling

Was ich letzte Woche gelernt habe, als ich Mama und Lehrerin und Pastorin war (und das Homeschooling-Element nicht besonders gut beherrschte im Sinne von mit meinen Kindern an einem Tisch sitzen, sie unterrichten und beaufsichtigen). Zitat Toni: „Mama macht das nicht so gut. Zum Glueck haben wir Papa.“

Meine Kinder haben trotzdem oder vielleicht gerade deshalb viel gelernt in den letzten 7 Tage: Wie man Brownies macht, wie man French Toast aus trockenem, altem Brot zubereitet. Wie man Freunden eine Freude macht, indem man Hoffnungssteine ​​bemalt und vor Türen legt. Wie man mit Langeweile umgeht (heute haben sie beschlossen, eine neue Sprache zu erfinden und sprachen sie 1 Stunde lang). Wie man Teil meines Online Gottesdienstes aus unserem Wohnzimmer ist (Theo zündete die Kerze an, Toni kam kurz herein und brachte alle zum Lächeln). Wie man wirklich auf seine eigenen Bedürfnisse und die Bedürfnisse anderer achtet, indem man Abstand hält, selbst wenn es anderen egal ist. Wie man Karten an Leute schreibt, die man vermisst. Wie man sich um einen Freund kümmert, der Geburtstag hatte und nicht mit seinen Freunden feiern konnte, wie man Zoom-Playdates hat …
Sie lernen, dass jeder Stein ein ganzer Spielplatz sein kann und dass 2 Bäume im Minigarten das Paradies sein koennen. Sie lernen einander zu schätzen. Sie lernen (langsam) zu akzeptieren, wenn ihre Eltern beide arbeiten müssen. Wir alle lernen, uns an Zeitpläne zu halten und unsere Versprechen zu halten, wann wir Zeit miteinander verbringen sollen. So viel in einer Woche gelernt

Oh, wir bringen ihnen auch etwas Mathematik und Lesen und Schreiben bei … aber hauptsächlich, indem wir lernen, wie man Geld zählt oder wie man Backzutaten misst.

Die Kinder wählen, was sie gerne lernen würden: Heute drehte sich alles um den Fluch des Pharao. Haben sie vom Drachen Kokosnuss gelernt. Stellt sich heraus, dass er real ist. Weil es in diesen alten Gräbern einen bestimmten Pilz gibt, der Menschen ziemlich schnell tötet. Forscher vermuten, dass die alten Aegypter den extra gezuechtet haven als Alarmanlage. Ich hatte keine Ahnung.

Ist das nun akademisches Homeschooling? Keine Ahnung. Aber es macht Spaß!

Aschermittwoch – wer trägt sein Kreuz?

„Danke, dass Sie ihre Kinder mitgebracht haben“, begrüsst mich die Dame am Eingang der Kirche und drückt mir das Programmheft in die Hand. In wenigen Minuten beginnt der abendliche Gottesdienst am Aschermittwoch. Mit Lesungen, Predigt, Aschekreuzsegen und Abendmahl. Das volle Programm abends um halb acht ohne Kindergottesdienst. Und die Dame freut sich über Theo und Toni. Erstaunlich.

Wir sind zu Besuch bei einer epsikopalen Gemeinde, zu der auch Freunde von uns gehen. Und sie machen alles richtig, was man sich wünscht. Sie können Liturgie und singen, sie predigen anregend, sie fördern Gemeinschaft und sind sozial engagiert. Und sie mögen Kinder. Nicht nur auf der Website. Sondern in echt.

Im hinteren Teil der Kirche liegen Teppiche und Spielsachen bereit (= Theos Aufenthaltsort). Es gibt eine Kinderbücherbibliothek (Tonis Platz). Während der Predigt gehen die Kinder zum Kindergottesdienst und kehren zum Abendmahl zurück. Ach, es könnte so einfach sein, wenn es einfach überall so wäre. Auf meine Frage an die Lehrerin, wie Theo sich benommen habe, antwortet sie: „Wunderbar. Alle unsere Kinder sind wunderbar.“ Da möchte ich sie spontan umarmen.

Aschermittwoch ist hier in den USA ein ganz normaler Mittwoch. Kein Feiertag. Und trotzdem bieten viele Kirchen bis zu 3 Gottesdienste an. Katholiken, Episcopale, Lutheraner, Methodisten, Reformierte, Presbyterier – alle machen mit. Und die Leute gehen hin.

Die Uhrzeiten sind arbeitsfreundlich und die Kirchen voll. Man hat die Wahl zwischen Gottesdiensten morgens 7.00, mittags, am späten Nachmittag und gegen 19.30. Alle Gottesdienste eint: die Gläubigen bekommen ein Aschekreuz auf die Stirn gezeichnet. Das trägt man dann gut sichtbar bis zum nächsten Duschen.

Und plötzlich werden Christen für wenige Stunden individuell sichtbar, in der S-Bahn und in der Stadt. Toni und Theo liebten ihre Segnung. Als es im Gottesdienst endlich soweit war, rannte Toni förmlich nach vorne. „Ich fühle mich jetzt richtig gesegnet und besonders“, sagte sie. Was für ein wunderbarer Start in die Fastenzeit.

Valentinstag für alle! Teil 2

Insgesamt 10 Menschen lernten wir innerhalb einer knappen Stunde kennen. 4 Frauen und 6 Männer. Ein Mann las gerade einen Roman, neben ihm lag ein Sandwich. Über einen Muffinnachtisch freute er sich trotzdem. Während wir mit ihm redeten, kam ein junger Mann auf uns zu, höchstens Anfang 20, gut gekleidet. „Das ist total toll, was ihr macht. Das wollte ich euch nur sagen. Gott segne euch.“

Ein Mann betete gerade sein Stundengebet mit dem Koran in der Hand. Er unterbrach kurz, ja, er esse Fleisch. „Gott segne Sie“, verabschiedete ich mich. „Gott segne Sie.“, antwortete er. Wir legten ihm sein Essen auf die Bank.

Ein alter Mann hockte auf dem Boden und hielt liebevoll die Hand seiner Partnerin. Sie sass im Rollstuhl mit müdem Gesicht. „Fröhlichen Valentinstag!“, wünschte ich und die beiden lächelten einander überrascht an. „Ist das wirklich heute?“, fragte der Mann. Ich nickte. Beide freuten sich über Brote und Muffin. Äpfel konnten die beiden nicht kauen. Wir kamen ins Gespräch. Er sei aus dem Mittleren Westen. Bevor er obdachlos geworden sein, hätte er sich nicht träumen lassen, wie gleichgültig Menschen sein könnten. „Es ist so wichtig, was Sie machen. Und dass sie ihre Kinder mitnehmen.“ Ich fühlte mich durchschaut. Na klar, das war auch eine Bildungschance für die Kinder. Vielleicht sogar vornehmlich. Jedenfalls hatte ich das geglaubt. Er erzählte, dass er für seine Freundin Schuhe kaufen wollte und sich der Verkäufer in Berkeley weigerte, sie ihm zu geben. „Ich hatte doch Geld!“, sah er mich traurig an. Er erzählte, dass er 8 Monate lang nicht wusste, wo seine Freundin war. Einfach weg sei sie gewesen und niemand habe ihm Auskunft gegeben. „Sie war in einem Heim und ich dachte schon, sie sei tot. Irgendwann kam sie wieder. Nun sind wir wieder zusammen. Gott sei Dank.“

Weiter liefen wir die Strasse hinunter. An zwei Frauen vorbei. Sie sassen mit einem Kaffee in der Hand in einem Hauseingang. Waren sie obdachlos? Ich wusste es nicht und fragte sie vorsichtshalber nicht. Wollte ja niemandem zu nahe treten. Einige Meter weiter mussten wir an der Ampel warten. Da rief die ältere der beiden: „Entschuldigung, verteilen Sie etwas?“ – „Ja, Brote.“ – „Dürften wir auch eins bekommen bitte?“ Wir drehten um und lernten Li und ihre Tochter 18-jährige Tochter Amy kennen. Li ist vor 25 Jahren aus Hongkong gekommen, hat hier gearbeitet, bis sie erst ihren Job verlor und dann vor einigen Wochen die Wohnung. Seitdem haben sie ihr Hab und Gut in 2 Kinderwagen geladen und leben auf der Strasse. Verwandte haben sie keine hier, die helfen würden. Stolz erzählt Li: „Amy will aufs City College gehen, sie hat letztes Jahr Abi gemacht.“ Und Amy lächelt schüchtern und sagt: „Heute wollte ich mich anmelden, aber ich war so fürchterlich müde.“ Ich nicke. Kann mir gar nicht vorstellen, wie man fit sein soll für eine Unibewerbung nach Nächten draussen, die auch hier kalt sind, um die 10 Grad. „Ich bewundere dich, Amy. Du musst unglaublich willensstark sein, in dieser Situation weiterzumachen und studieren zu wollen.“

Auf dem Rückweg laufen wir nochmal durch den Park. 2 Männer schlafen, einer redet mit dem Himmel und starrt in die Luft. Auf einer kleinen Mauer sitzen einige Leute, reden, lachen, hören Musik. Wir gehen auf das Grüppchen zu und bieten ihnen unsere Brote und Muffins an. Ein älterer Mann, Ray, nimmt etwas, betonend, dass er nicht mehr obdachlos sei. Er war es, viele Jahre. Aber seit 10 Jahren habe er eine kleine Wohnung. In den Park komme er, um anderen Mut zu machen. „Ich habe es geschafft, sie können es auch schaffen.“

Sein Kumpel hat noch keine feste Bleibe gefunden. Als er unsere Muffins sieht, strahlt er übers ganze Gesicht. „Oh, das ist mein Lieblingsessen. Darf ich 2 nehmen?“ – „Klar, gerne auch 3 oder 4.“, lache ich. „Danke, aber eigentlich darf ich keinen Zucker essen. Aber wann krieg ich schon mal frisch gebackene Muffins.“ Vorsichtig nimmt er sich die warmen Muffins aus der Dose und legt sie wie einen kleinen Schatz vor sich hin. Und dann erzählt er: Davon, wie fröhlich er als kleiner Junge war. Dass seine Mutter ihm kochen beigebracht hat und wie gern er bei ihr in der Küche stand. Dass er mit seinem Vater auf dem Bau und im Abriss und beim Abschleppdienst gearbeitet hat. Ich sehe ihn förmlich vor mir. Einen kleinen Jungen mit mitreissendem Lächeln. Einen jungen Mann voller Tatendrang. Ein Leben voller Hoffnungen. Was dann passiert ist? Ich weiss es nicht. Aber ich sehe nicht mehr einen anonymen Mann ohne obere Zahnreihe und in Lumpen, der eine Bierflasche in einer Papiertüte versteckt. Sondern einen Nachbarn, dem das Leben übel mitgespielt hat. Während unserer Unterhaltung beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie Theo mit Ray redet.

Bevor wir gehen wollen, holt Ray plötzlich sein Portemonnaie hervor. Er möchte uns was geben fürs essen. Ich wehre ab, nein, das sein ein Valentinsgeschenk. Doch er insistiert. Fischt einen $5-Schein hervor und gibt ihn Theo. „Bitte, nehmt das. Ich hatte Glück. Ich durfte ein Rehabilitationsprogramm absolvieren und habe eine Wohnung bekommen. Jetzt möchte ich zurückgeben.“ Da gebe ich auf und wir nehmen das Geld dankend an. Weil ich das Gefühl habe, dass es nicht richtig wäre, Ray diese Freude zu verwehren. Auf dem Nachhauseweg überlegen wir, was wir mit dem Geld machen können. Wie wir damit mehr Menschen Gutes tun können. „Kinder, ich gebe euch noch $5 dazu, lasst euch was einfallen.“, sage ich. Noch überlegen die beiden. Mal sehen, was passiert.

Am Ende des Vormittags habe ich das Gefühl, die eigentlich Beschenkte zu sein. Die Kinder ekeln sich jetzt nicht mehr vor Obdachlosen. Die Geschichten haben sie berührt und beschäftigen sie weiter. Wir wurden mit Geschichten beschenkt. Wir wurden gesegnet. Mit mehr Segenswünschen als ich jemals in Berkeley gehört habe.

Gott segne unsere obdachlosen Nachbarn. Und gebe uns Augen und Ohren für ihre Leben und Geschichten. Damit wir nicht in ohnmächtiges Wegsehen verfallen. Damit wir in ihnen sehen, was sie sind: liebenswerte Menschen und Nachbarn.

Valentinstag für alle! Teil 1

Ich habe den Valentinstag hier wirklich lieben gelernt. Die Kinder bastelten für alle Klassenkameraden kleine Kärtchen und überlegten, was sie an dem oder derjenigen mögen. Und sie bekamen jeder 20 Karten von ihren Mitschülern, teils wirklich rührende Freundschaftserklärungen mit Liebe gekritzelt und geklebt.

Seit vielen Monaten ist bei uns die bedrückende und allgegenwärtige Obdachlosigkeit Thema. Anfangs waren die Kinder noch erschüttert, wenn sie Menschen auf der Strasse liegen sahen. Nach und nach wandelte sich dies in Ekel und Gleichmut. Ich war erst überrascht, dann traurig und konnte mir nicht erklären, was passiert ist. Zu Hause reden wir nie schlecht über wohnungslose Nachbarn. Die Kinder kennen Leah und Theo, die Familie, die wir unterstützen. Ich gucke niemanden komisch an auf der Strasse (glaub ich jedenfalls). Und trotzdem: Ekel und Gleichmut.

Eine befreundete Psychologin erklärte es mir: „Das ist völlig normal. Die Kinder sehen sich dem Elend ohnmächtig ausgeliefert. Sie halten es nicht aus und haben das Gefühl, nichts tun zu können. Also stumpfen sie ab. Und rationalisieren das Gefühl als Ekel.“ Was tun? Ich solle den Kindern zeigen, dass sie einen Unterschied machen können. „Vielleicht könnt ihr immer was Kleines in der Tasche haben zum Verschenken?“

Soweit sind wir noch nicht. Auch wenn wir schon Ideen gesponnen haben, was nützlich sein könnte. Zahnbürsten und Zahnpasta vielleicht. Oder Süssigkeiten fürs Herze.

Am 14. Februar selbst hatten die Kinder schulfrei. Eine Freundin kam morgens zu uns und das Kinderferientagscamp war komplett. Ideal, um endlich den Wunsch in die Tat umzusetzen. Wir buken Schokomuffins, die Kinder schmierten oberleckere, dick belegte Sandwiche. Dazu packten wir Äpfel und Süssigkeiten ein und gingen 7 Minuten gen Innenstadt. Dort ist ein kleiner Park, Anlaufpunkt für viele Obdachlose und Arme.

Eine kurze Unsicherheit überkam mich. Wie würden die Menschen es aufnehmen, wenn wir ihnen Essen anbieten? Ich wollte ja niemandem zu nahe treten, niemanden beleidigen. Eine Frau sass auf der ersten Bank. Sie schimpfte laut in Richtung einiger Männer. Ihr Oberkörper war halb entblösst.

Ich ging lächelnd auf sie zu: „Fröhlichen Valentinstag wünsche ich ihnen.“

Sie drehte sich zu mir um, lächelte überrascht. „Danke, das ist lieb. Ihnen auch.“

„Die Kinder und ich haben Brote gestrichen und frische Schokomuffins gebacken. Sie sind noch warm. Dürfen wir ihnen welche anbieten? Aber wirklich nur, wenn sie mögen.“, fragte ich vorsichtig.

„Gerne! Sehr gerne. Das ist wunderbar.“ Ich reichte ihr beides. Da fragte Theo schüchtern: „Wir haben auch Äpfel, mögen sie einen?“ Das Strahlen der Frau wurde noch breiter und Theo reichte ihr einen.

Da traute sich auch Toni. „Ich habe kleine Tüten mit Süssigkeiten gefüllt, bitteschön.“ Die Frau guckte die Kinder an, ungläubig fast ob der Freundlichkeit. Dann bedankte sie sich.

„Wie heissen sie?“, fragte ich und sie sagte es mir. „Lisa, ich bin Tia. Es ist mir eine Ehre, sie getroffen zu haben.“ – „Mir auch. Gott segne euch.“, antwortete sie. „Gott segne sie!“, verabschiedeten wir uns. Meine Angst war verflogen. Es war richtig, was wir hier machten.

Vorfreude auf Deutschland

Wir fliegen nach Deutschland. Danke liebe EKD. Denn sie zahlt den Kindern und mir einen Rückflug innerhalb von 12 Monaten und den konnte ich nicht verfallen lassen. Gott sei Dank.

Pünktlich zur Adventszeit bekam Toni nämlich wieder Heimweh. Es begann ganz harmlos mit der Frage: „Kommt Grossmama Weihnachten zu uns?“ – „Nein.“, sagte ich wahrheitsgemäss. – „Kommt Jannschi?“ – „Nein.“ – „Kommt Chrischi?“ – „Nein.“ – „Kommt überhaupt irgendwer aus Deutschland?“ – „Nein.“

Und dann brach es aus Toni heraus: „Ich will nach Deutschland zurück. Ich will, dass es so ist wie immer. Dass wir alle zusammen Weihnachten feiern bei Grossmama in Rostock. Wie immer.“ Toni weinte bitterlich und ich beschloss, das Geheimnis zu lüften. Leise flüsterte ich ihr unsere Reisepläne ins Ohr. Sie lächelte, die Krise war überstanden.

Einige Tage später begann Theo mit denselben Fragen und Toni erzählte es ihm. Seitdem zählen die Kinder doppelt: Einmal klassisch bis Weihnachten. Und dann addieren sie 2 Tage dazu bis zum Abflug. Heute haben wir Geschenke eingepackt (halber Koffer) und unsere Klamotten. Am 26. fahren wir nach dem Frühstück zum Flughafen.

9 Stunden Direktflug allein mit 2 Kindern. Sollte kein Problem sein dank Filmangebot. Allerdings landen wir in Deutschland, wenn es nach amerikanischer Zeit Mitternacht ist. Irgendwie muss ich die beiden also zum Einschlafen bringen. Na, wird schon.

Ich bin langsam genauso aufgeregt wie die Kinder, noch 1x schlafen bis Weihnachten und 3x schlafen bis Deutschland. Hurra!