7. November

Freitag sind wir spaet ins Bett gegangen und dennoch schrecke ich 7.15 Uhr hoch. Vielleicht ist es endlich soweit? Ein schneller Blick aufs Telefon. 253, unveraendert. Das kann doch nicht wahr sein. Ich doese noch etwas, lese Facebook, loesche die NY Times newsletter – es ist doch zum Maeuse melken…

8.30 Uhr: Wir trudeln alle in der Kueche ein, setzen Wasser auf. Ich ueberrrede Toni, ihr grosses Eierkuchen und Spiegelei Fruehstueck Sonntag einzunehmen. Denn heute ist Reittag. Wie an den meisten Samstagen fahren wir zusammen mit unserer Familienbubble auf eine Ranch 30 Minuten entfernt von Berkeley. Peter gibt den Kindern dort Reitstunden. Es ist jedes Mal ein Miniurlaub ohne Telefonnetz. Dafuer mit vielen gebuertigen Mexikanern, tanzenden, auf Hochglanz polierten Pferden, Pfauen, 2 riesigen, kinderlieben Hunden, einem faul herumliegenden Schwein. Mit Eseln, Zebra, Bullen und abgestellten Treckern, auf denen Pauli und Theo ihre Autofantasien ausleben. Ein kleines Paradies.

8.55 Uhr: Ich habe eine Textnachricht. Von meiner Nachbarin im Gruppenchat unserer Strasse. Nur ein Bild: MSNBC deklariert Biden zum Gewinner der Wahl. Ich will juchzen, aber checke vorsichtshalber erstmal die anderen Zeitungen. CNN, NY Times, ABC News, ja, alle sind sich einig. Dann stimmt es! Wir tanzen und schreien herum. Ich texte: Ich oeffne den Champagner und bin in 3 Minuten vor der Tuer.

9.00 Uhr: Wir treffen uns auf der Strasse. 3 Frauen, 3 Kinder. Es gibt Sekt und Kindersekt in Glaesern. Wir sind so erleichtert, dass wir erstmal gar nicht richtig ausrasten koennen. Langsam sickert es ein. Trump muss gehen. Die Angst vor weiteren 4 Jahren Wahnsinn darf weichen.

9.05 Uhr: Eine andere Nachbarin kommt mit ihrem kleinen Sohn dazu. Wir stossen an, sagen immer wieder: Ich bin so erleichtert!!!! Mehr faellt uns erstmal nicht ein.

9.10 Uhr: Wir schicken Toni los, Nachbarn rausklingeln. Die Pappnasen schlafen wahrscheinlich noch. Nach und nach stecken sie ihre Koepfe durch die Tuer (der schoenste Schlafanzug war ein quergestreifter Zweiteiler eines Papas) und rennen dann raus. Unsere Erleichterung schlaegt in Freude und Jubel um.

9.20 Uhr: Allen Gassigehern und Joggern rufen wir zu und verteilen Sekt. Anne schaltet Musik an, einige tanzen. Unsere aelteren Nachbarn stehen auf ihrer Veranda und winken gluecklich.

9.30 Uhr: Lautes Geschaepper. Studenten rennen und tanzen unsere angrenzende Strasse entlang und schlagen mit Holzkellen auf Toepfe. Autos hupen. Wer jetzt noch schlaeft, hat sich am Abend vorher mit Schlafmitteln beruhigen muessen.

9.40 Uhr: Ein aelteres Ehepaar kommt vorbei, haelt an, steosst mit uns an. Sie wuenschen sich „Heho, the witch is dead“. Wird glatt erfuellt.

9.50 Uhr: Ich frage Toni, ob wir noch reiten gehen wollen. Sie bejaht und wir muessen also mal fruehstuecken. Nicht, bevor wir mit den Nachbarn ausgemacht haben, am Abend Bidens und Kamalas Reden auf unserer Garagentuer gemeinsam zu gucken.

10.20 Uhr: Wir fahren los. Jedes Mal, wenn wir einen Spaziergaenger sehen, hupe ich: dadadadaaaaaaaadada. Wir haben kein Schild und trotzdem weiss jeder, was gemeint ist. Toni haengt sich aus dem Fenster und jubelt dazu. Eine Stadt im Freudentaumel.

10.30 Uhr: Auf der Autobahn. Wir reden darueber, dass sich heute nicht alle Menschen ueber das Wahlergebnis freuen. Dass fast die Haelfte der Waehler fuer Trump gestimmt hat und nun entsprechend traurig ist. Dass es gut sein kann, dass auf der Ranch nicht alle zufrieden sind heute. Dass es voellig in Ordnung ist, sich trotzdem zu freuen. Aber, dass wir Trump nicht beschimpfen und auch sonst keine Schadenfreude zeigen. (Ein Wort, das es auch Englisch nicht gibt.)

10.50 Uhr: Ankunft, Toni darf gleich reiten, es ist herrlich, wie immer.

12.00 Uhr: Alfredo, der Chef begruesst uns. Wir reden ein bisschen und kommen dann auf die Wahl zu sprechen. Und dann fuehren wir den Tanz auf, den man hier macht, wenn nicht klar ist, wofuer der andere ist. Wir einigen uns, dass es vor allem gut ist, nun eine Entscheidung zu haben, wie anstrengend das Warten war. Dann erzaehlt Alfredo, dass viele Suedamerikaner fuer Trump seien. „Er ist natuerlich dumm, aber einige seiner Ideen waren gut. Vor allem die Steuersenkungen.“ Ich frage nach, will mehr darueber wissen. Doch da lenkt Alfredo ein. „Das Beste an dem Ergebnis ist Kamala.“ (Ich nicke in wilder Zustimmung.) „So viele Menschen koennen sich mit ihr identifizieren. Sie koennte wirklich was veraendern.“

16.00: Eine Freundin postet ein Bild von ihrer Pilgertour zum Haus, in dem Kamala Harris hier in Berkeley aufgewachsen ist. Die Idee hatten anscheinend viele. „Wir sind Vize-Praesident“. Liebevoll wir hier von „Tante Kamala“ gesprochen.

16.30 Uhr: Wir treffen uns draussen mit Nachbarn zum Aufbau unseres Freilichtkinos. Einer bringt den Projektor, jemand anderes einen Klapptisch, ich das Verlaengerungskabel und Stuehle.

17.04 Uhr: Puenktlich geht die Sonne unter, so langsam koennen wir die Bilder auf der „Leinwand“ erkennen. Die 5 Kinder legen sich auf den Boden, die Erwachsenen sitzen und stehen mit Wein in der Hand. Es herrscht eine Vorfreude wie zu Weihnachten.

17.30 Uhr: Endlich, Kamala betritt die Buehne. Sie spricht und mir rollen Traenen die Wange herunter. Vor allem, weil Toni neben mir sitzt und immer wieder sagt: „Wow, die ist gut. Die kann so toll reden. Und es stimmt alles. Keine Luegen.“ Und ich denke, wie ironisch es ist, dass 2020 eine Frau so weit kommt in der amerikanischen Politik. In dem Jahr, in dem die Beschaeftigungsrate von Frauen in den USA auf den Stand der fruehen 1980er gefallen ist. Weil Frauen zuerst gekuendigt werden. Weil Frauen selbstverstaendlich wegen der Kinder zu Hause bleiben, wenn alle Schulen geschlossen sind.

17.50 Uhr: Biden joggt auf die Buehne. Er sieht erstaunlich fit aus nach vermutlich zahlreichen schlaflosen Wochen. Und es tut so gut, eine versoehnliche, besonnene und in sich logische Rede zu hoeren. Es ist Balsam fuer meine Seele.

18.00: Zur Feier der Tages hat Peter Fleisch- und Apfelstrudel gebacken. Wir schmausen gemeinsam. Was fuer ein Glueck, dass wir unsere Bubble haben!

19.30 Uhr: Ab nach Hause, ab ins Bett. Ploetzlich bin ich hundemuede. Es ist eine ueber Wochen angestaute Erschoepfung, die sich Bahn bricht.

21.00: Ich schlafe noch vor den Kinder ein und selig bis 7.30 Uhr am naechsten Morgen. Denn 8.00 muss ich nach Fremont zu meiner Gemeinde fahren zum open-air Gottesdienst. Der Spuk ist zwar noch nicht vorbei. Aber das Ende ist in Sicht.

Nach dem Gottesdienst erzaehlen mir viele Gemeindeglieder, wie gut sie letzte Nacht geschlafen haetten. Wie energetisiert sie ploetzlich seien. Die unproduktivste Woche des Jahres 2020 hat ein Ende! Let’s roll.

5. November

8 Uhr: KEINE Veraenderung. Oh Mann, wofuer schlaf ich denn 8 Stunden? Ein neuer Tag des Wartens beginnt.

9.10 Uhr: Gegen die Unruhe hab ich gestern mit Morgensport angefangen. 20 Minuten im Garten waehrend die Kinder Zoom meeting haben. Heute tut mir alles weh, ich kann weder laufen noch sitzen. Aber wenigstens lenkt mich das von der seelischen Belastung durch diese Wahl ab. Amerikaner essen vor Stress ganz viel, lese ich online. Und trinken zu viel. Ja. Da mach ich lieber Sport und humpel hernach rum.

10.30 Uhr: Bibelstunde mit der Gemeinde per Zoom. Wir geben uns Muehe, nicht ueber die Wahl zu reden. Schaffen es fast. So mancher hat nebenbei die Nachrichten laufen.

12.00 Uhr: In Minischritten gehen die Zahlen fuer Biden in Georgia und Pennsylvania hoch. Ich mach mir Sorgen um Nevada, Da wohnen zu viele Cowboys. Nette Leute und Hardcore Trumpwaehler.

13.00 Uhr: Ich texte meinen Nachbarn, dass der Champagner kalt gestellt ist. Sobald Biden gewinnt, sollen sie mit ihren Glaesern in unsere Einfahrt kommen. Tanzen ist erwuenscht.

18.00 Uhr: In Georgia ist nun Gleichstand!!

19.00 Uhr: Finanzkommittee tagt, wir stellen den Haushalt fuers neue Jahr auf. Ich weiss, dass mind. 1 ein echter Trumpfan ist. Entsprechend bete ich am Ende neutral fuer Geduld und das Beste fuer die Nation. Da haben wir vermutlich unterschiedliche Ideen, wie das aussehen wird.

22.30 Uhr: Heute kommt nichts Neues mehr. Ich bewundere die CNN Kommentatoren, die 24h am Tag auswerten. Gute Nacht.

4. November

7.25 Uhr: Ich hatte meinen Wecker auf 8.30 Uhr gestellt. Um Rausch und Frust auszuschlafen. 7.25 Uhr schreckte ich hoch. Stand auf, holte mein Telefon und sah die Nachrichten. Vorsichtige Hoffnung gepaart mit grosser Angst. Und die Erkenntnis, dass die Demokraten den Senat nicht mehrheitlich gewinnen. Also wieder Schach Matt Situation, selbst wenn Biden gewinnt.

8.00 Uhr: Die Kinder wachen auf. Fragen nach dem Wahlergebnis. Theo sagt: Mama, wenn Trump gewinnt, gehen wir nach Deutschland, ja? Toni aergert sich, dass sie nicht waehlen darf. Wir fruehstuecken, die Kinder gehen in ihre Zoom meetings. Und ich mache endlich, was ich mir seit Monaten vorgenommen habe: Ich geh raus in den Garten, tippe auf Youtube „workout ohne Geraete 20 Minuten“ ein und mache Sport. Nach 15 Minuten bin ich halb tot, nach 20 kann ich kaum noch stehen. Ein sicheres Zeichen, dass das hier unbedingt notwendig ist, am besten jeden Morgen. Oder wenigstens Montag bis Freitag.

Kurz bevor wir losfahren wollen ins Camp, faellt mir ein, dass ich den Kindern kein Lunch gepackt hab. Krise bei beiden. Sie duerfen sich jeweils 3 Muesliriegel einpacken. Damit sind sie beruhigt. Schnell noch Brote geschmiert (Toni selbstgebackenes Roggensauerteigbrot mit Salami, Theo „amerikanisches Brot“ = Toast mit Nutella), Bananan, Wasser, Masken, LOS!

10.20 Uhr: Kinder viel zu spaet abgegeben. Und nun schalte ich das Radio ein. Hoere, dass Trump um 9% an Zustimmung bei Latinowaehlern gewonnen hat. WAAAAS? Mit seiner ganzen Hassrede gegen Immigranten und Mexikaner und, oh Mann. Zu Hause angekommen, bleibe ich im Auto sitzen und lese. Abwechselnd CNN, NY Times, Facebook, ABS News. Ich fuehle mich manisch, getrieben, halte die Unwissenheit nicht aus. Traenen steigen mir in die Augen vor Wut, dass dies ueberhaupt ein knappes Rennen ist. Und nicht eine drastische Niederlage fuer Trump.

11.45 Uhr Biden gewinnt Wisconsin. Ich atme tief durch. Steige aus dem Auto. Kopf hoch. Die Chancen stehen gut. Biden braucht nur noch Nevada und Michigan und Arizona. Fuer die magischen 270 Stimmen.

12 Uhr: Ich versuche, mich auf Weihnachten zu konzentrieren. Auf die Planungen fuer die Adventszeit. Irgendwas schoenes. Dann koch ich Spaghetti, hilft alles nix.

12.45 Uhr: Philipp und ich essen in herrlichster Sonne im Garten. Ploetzlich hoeren wir Hupen in der ganzen Stadt. Haben wir was verpasst? Ich springe auf, checke CNN. Komischerweise seh ich da immer als erstes die Warnung, dass Grosstiere vom Aussterben bedroht sind. Hat das was mit der Wahl zu tun? Nee, nichts verpasst. Dann die Nachricht: Michigan faellt zu Biden. 253 Stimmen hat er damit. Noch 17 braucht er. Und dann spricht Biden. Wie ein Praesident, besonnen, zur Einheit aufrufend, so ganz normal. Es ist traumhaft. Nur noch Nevada und Arizona muessen nun fuer Biden gestimmt haben. Dann ist es geschafft. Ob mit oder ohne Pennsylvania. Ein Thriller ist nichts dagegen.

13.50 Uhr: Ein Freund schreibt mir, wir haetten nun die Phase der russischen Roulette begonnen. Trump will in den Swingstates, die er verloren hat, die Stimmauszaehlungen juristisch anfechten. Das irre Spiel geht weiter. Ich frage mich, wie Amerikaner diesen Nervenkitzel alle 4 Jahre seelisch und moralisch durchhalten. Es ist der politisch schlimmste Ausnahmezustand meines Lebens. Und ich verstehe erstmals wirklich, warum so viele Menschen so erschoepft sind vom Dialog mit der jeweils anderen Seite. Das Land ist so tief gespalten. So tief, dass Trump nach 4 katastrophalen Jahren mehr Zustimmung hat als zuvor (in absoluten Zahlen, weil dieses Jahr mehr Menschen gewaehlt haben).

14.30 Uhr: Ich schreibe Predigt fuer Sonntag, versuche es jedenfalls. Dies ist der emotional anstrengendste Tag sein langem.

16.30 Uhr: Beim Predigt schreiben hab ich nur alle 5 Minuten die Updates gecheckt. Ab, Kinder holen.

18 Uhr: Abendessen, wir entspannen uns kurz. Die Kinder muessen Hausaufgaben machen.

19.30 Uhr: Happy Hour meiner Gemeinde per Zoom. Thema ist Sport und Umzug. Alle geben sich Muehe, nicht ueber die Wahl zu reden. Bis wir es dann doch tun. Uns unsere Stresslevel und Schlaflosigkeit eingestehen. Eine hat sich extra heute frei genommen, um die Auszaehlungen verfolgen zu koennen. Bei allen steht der Sekt kalt. Wir sind uns einig, zur Not wird der morgens um 8 Uhr getrunken. Wann immer die erloesende Nachricht kommt. Der Krimi geht schon viel zu lange. Klar, vorher hatten uns alle gewarnt, dass es Tage dauern wuerde. Aber da wusste ich noch nicht, wie sehr das meinen Alltag bestimmen wuerde. Ich fuehl mich quasi arbeits- und denkunfaehig. Nicht schoen.

21.30 Uhr: Ich starre auf die Zahlen, unveraendert 253 zu 213. Was braucht Nevada bitte so lange. So wenige Stimmzettel koennen doch nicht so lange dauern. Philipps Theorie: Die haben zu wenig Wahlhelfer, weil da eh kaum jemand wohnt. Georgia wird langsam so eng, dass Biden ne Chance hat. Arizona scheint stabil zu sein. ZAEHLT SCHNELLER! UND GENAU! ICH KANN NICHT MEHR!

22 Uhr: Ich geh ins Bett und les noch mein neues Buch: Red State Christians. Understanding the Christians who voted for Trump. Fuer die Zukunft, wenn wir wieder miteinander reden, hoffentlich.

3. November 2020

7.45 Uhr: Endlich. Endlich ist dieser Tag da. Auf den ganz Berkeley seit 4 Jahren wartet. Und ich bin muede. Vom Umfragen lesen der letzten Wochen. Von der Politik der letzten Jahre. Von den Debatten der letzten Monate. Vom Unsinn hoeren und lesen. Von der Untergangsstimmung. Von der echten Sorge. Von der Angst um meine Freunde, die nicht ins idyllische Bild vieler Republikaner passen.

8 Uhr: Aufstehen. Kinder wecken. Fruechstueck machen. Kinder vor Zoom setzen, durch Facebook scrollen. Meine Freunde sind fertig und besorgt. Manche haben sich extra frei genommen, um den ganzen Tag in der Natur zu verbringen. Um nicht durchzudrehen. Die meisten haben schon vor Wochen gewaehlt.

9.50 Uhr Kinder ins Waldcamp fahren. Auf der Rueckfahrt Radio hoeren. Ein Reporter empfiehlt, heute Abend nicht zu viel Zeit mit ersten Zahlen zu verbringen. Sie werden kaum was aussagen. Morgen frueh koenne man ja mal in Ruhe die Nachrichten checken. Gute Idee, denke ich.

10.30 Uhr Beim Einbiegen in meine Strasse sehe ich eine Nachbarin. Ich halte kurz an, kurbele das Fenster runter. „Wie geht es dir?“, frage ich. „Ich bin so unruhig. Gerade hab ich meinen Sohn in die Krippe gebracht und danach musste ich erstmal eine Stunde spazieren und Weinen, meine Aengste loswerden.“, berichtet sie. Sie erzaehlt, sie habe viel Polizei gesehen auf ihrem Weg. Im ganzen Land ist die Polizei in Bereitschaft. Wir waehnen uns hier sicher im Falle von Ausschreitungen. Die finden normalerweise (krass, dass ich das so sagen kann, aber nach dem Sommer haben wir etwas Erfahrung damit) in San Francisco und Oakland statt.

Wir tauschen unsere alkoholischen Plaene fuer die naechsten Tage aus (Wein in Mengen, sie Rum, ich Whiskey) und ich bringe ihr ein Stueck selbstgebackenen Kuerbis-Cheesecake vorbei. Man braucht schliesslich Auswahl beim Panikessen in den naechsten Tagen.

11 Uhr: Bibelstunde mit meinen Kollegen. Das Evangelium ist die Geschichte der weisen und toerichten Jungfrauen. Na super, unpassender kann ein Text echt nicht sein. Spaltung und Gericht und Weltuntergangsstimmung pur. Das brauchen wir nun wirklich nicht noch im Gottesdienst zu hoeren. Das haben wir schon im Alltag rauf und runter. Ich werde diese Woche noch mit dem Text hadern und ihm die Gute Nachricht abringen. Vielleicht doch genau das, was ich jetzt brauche.

12 Uhr: Ich versuche, Gebete fuer Sonntag zu schreiben. Mein Kopf ist leer. Wie soll ich denn heute wissen, wie morgen oder uebermorgen dieses Land aussieht? Oder die Welt? Freunde schreiben mir aus Deutschland, fragen, wie hier die Lage ist. Ich denke, sonnig, herrlich, eigentlich. Total verrueckt, andererseits.

12.20 Uhr: Ich telefoniere mit meinem Organisten, wir besprechen die Musik fuer Sonntag. Auch er ist gestresst. Derweil arbeiten mehrere Pastoren und der Bischof meiner hiesigen Landeskirche gerade als Wahlhelfer. Ich wollte das auch, aber ohne Green Card geht das leider nicht.

13.15 Uhr: Freunde schreiben, fragen, ob wir heute Abend zusammen fernschauen. Ich lehne erst ab. Will meinem Vorsatz treu bleiben. Sie ueberzeugen mich, dass ich mir diese amerikanische Erfahrung nicht entgehen lassen darf. Inklusive Cocktails. Ich gebe nach. Ab 20 Uhr also Wahnsinn.

14 Uhr: Ich lese 15 Kommentare zu den Jungfrauen und bin noch immer wuetend auf diesen Text. Aber es hilft, Gedanken zu ordnen. Ich hab einfach den besten Beruf der Welt!

15.30 Uhr: Ein Gemeindeglied ruft mich an, sie koordiniert das Maskennaehen unserer Gemeinde. Bisher wurden knapp 4000 Masken verschenkt. Sie ist die Erste heute, die die Wahl nicht erwaehnt. Bis wir dann doch drauf zu sprechen kommen, weil eine andere sehr aktive Dame unserer Kirche Wahlhelferin ist.

16.30 Uhr: Ich fahre los, die Kinder abholen und schalte extra auf Musik um, bitte keine Nachrichten!

17.30 Uhr: Mein Gottesdienst-Team trifft sich ueber Zoom. Als ich einschalte, hoere ich den Fernseher laufen. Bitte, ausschalten! Sie schaltet ihn leise. Ich kann mich sonst nicht konzentrieren. Der Adrenalinspiegel steigt merklich. Was, wenn? Und was, wenn nicht? Werden radikale Trumpanhaenger Terror verbreiten? O Mann…

19 Uhr: Abendessen mit den Kindern.

20.45 Uhr: Kinder liegen im Bett, nun aber nichts wie rueber zu unseren Freunden. Der TV-Wahnsinn kann beginnen. Auf dem Weg lesen wir erste Nachrichten. Ich kriege Panik. Mein Adrenalinspiegel steigt. Mein Herz pocht hektisch. Trump scheint zu fuehren. Das kann doch nicht wahr sein.

20.50 Uhr: Wir sind bei Peter und Nicole angekommen. Pflaumenschnaps oder Whiskey oder Rum? Pflaumenschnaps. Richtig guter. Das hilft gegen das Herzrasen. Wir gucken NBC und ABC abwechselnd. Beide gelten als relativ mittige Sender. Zwischendurch checken wir NY Times und CNN. NY Times ist immer etwas hoffnungsvoller fuer Biden. Das brauchen wir, auch wenn es nicht sicher ist. Egal. Man haengt sich an jeden Strohhalm. Nach dem 1. Glas Schnaps will ich nur noch heulen. Also trink ich ein 2. Jetzt geht es besser. Peter lacht nur noch hysterisch. Nicole ist genauso panisch wie ich. Was, wenn? Seit Monaten reden wir Liberalen davon, dass wir die Spaltung ueberbruecken und Wunden heilen muessen. Mit Biden als Praesident. Kann ich Spaltung ueberbruecken mit Trump als Praesident? Kann ich mir gerade nicht vorstellen. Schock ueber die knappen Rennen, selbst in Staaten, die Biden gewinnt. Ca. 50% der Amerikaner haben fuer Trump gestimmt, soviel ist klar. Hoffentlich nur 48-49%. Und dennoch, fast die Haelfte der Bevoelkerung. Ich kann es nicht fassen. Obwohl ich es eigentlich haette wissen muessen.

Biden spricht. Er sieht muede aus, bleibt ruhig und besonnen und hoffnungsvoll. Alles, was wir gerade brauchen.

Jetzt kommt Trump. Er wirkt wie auf Beruhigungsmitteln. Nennt Statistiken rauf und runter. Ich kann kaum folgen. Behauptet, es sehe fantastisch aus fuer ihn. Obgleich er zu dem Zeitpunkt 8 Wahlmaenner hinter Biden liegt. Aber er wirkt entspannt. Wir wollen schon wegschalten. Er scheint gut gebrieft worden zu sein, sich im Zaum zu halten. Und dann passiert es doch. Er behauptet, die Wahl sei korrupt. Fordert, dass das Auszaehlen der Stimmzettel beendet werde sollte um Mitternacht. Und dann ernennt er sich selbst zum Sieger der Wahl. Egal, wie sie ausgeht. Alles geht so schnell, dass wir erst nicht sicher sind, ob er es wirklich gesagt hat. Hat er. Wirklich. Und Millionen Amerikaner schauen zu. Wer wird als Erstes gewalttaetig auf den Strassen?

23.30 Uhr: Wir verabschieden uns alle und gehen schlafen. Ich bin ploetzlich so muede. Biden fuehrt, schnell einschlafen, bevor sich das aendert. God bless America! Aber ein bisschen ploetzlich!