Überlebensstrategien

  1. Irgendwann wird es wieder besser. Manchmal schneller, manchmal langsamer. Und wir müssen das Schöne dann ganz schnell geniessen. Als ob’s kein Morgen gäbe. Denn vielleicht gibt es kein gutes. „Ist die Luft gut?“, ist inzwischen hier eine Standardfrage der Kinder. Bei „Ja“ flitzen sie schnell um den Block oder sitzen auf ihren Bäumen.

Bei „Nein“ waren sie anfangs ganz depressiv, viele Tränen flossen. Inzwischen nehmen sie es gelassen, spielen drinnen, puzzlen, malen, backen dann und warten einfach ab. Denn nichts dauert ewig. (Auch wenn 1 Woche rauchige Luft sich wie eine Ewigkeit anfühlt.)

2. Mach’s wie Beppo der Strassenfeger. Plan nicht zu weit voraus. Was machen wir morgen? „Wenn die Luft gut ist, dann…“ Und am Wochenende? Hmmm… vielleicht… Und Weihnachten? Weihnachten? Oh je, das ist noch soooo lange weg. Wer weiss wie die Welt dann aussieht. Zu meinem Geburtstag fragte mich eine Freundin nach meinen Plänen für das neue Lebensjahr. Ich hatte ehrlich keine Antwort. Und das ist gar nicht schlimm. Wir leben einfach von Montag (1. Blick auf den Predigttext) bis Sonntag (Predigt). Und dann wieder von vorne.

3. Ein bisschen Abstumpfung muss sein. Man gewöhnt sich an fast alles.

Masken? Gehören inzwischen zu unserem Alltag wie die Brille auf der Nase. Die Kinder tragen sie den ganzen Tag im Camp und teilweise vergessen sie sie dann selbst im Auto abzunehmen. Turnen mit Maske? Kein Problem! Spielen, rennen, toben mit Maske? Auch keins. Wirklich.

Einkaufen mit Sicherheitsabstand? Ist ehrlich gesagt viel angenehmer. Endlich muss ich mich nicht mehr vor den Regalen quetschen lassen.

Schule über Zoom? Täglich 45 Minuten machen die Kinder inzwischen richtig gern. (Den Rest ersparen wir ihnen, bis auf den Einzelunterricht, weil sie Englisch als Fremdsprache lernen.) Beide loggen selbständig ein, schreiben und rechnen mit. Toni bespricht mathematische Probleme gekonnt in Breakout Rooms mit Klassenkameraden und achtet darauf, dass alle zu Wort kommen in der Kleingruppe.

Nur 3 Tage die Woche Kinderbetreuung im Camp? Reicht eigentlich völlig aus. Die restlichen 2 Tage sind gut gefüllt mit spielen (Mama, wir haben NIE richtig Zeit zum spielen), lesen, Freunde treffen (draussen, mit Maske natürlich), Kunstunterricht bei einer Nachbarin und Lehrerin im Garten, Turnen im Verein (in Minigruppen, mit Maske) und Hausaufgaben nachholen. Und schwups, ist der Tag rum. Und ich hab sogar ein bisschen was gearbeitet nebenbei 🙂

Eine weitere Katastrophe? (Feuer. Stromausfall. Rauch, deswegen fällt das Camp aus, also keine Kinderbetreuung an den suuuper vollen Arbeitstagen, weil ich natürlich die 3 Tage richtig voll knalle. Bubblefreunde ziehen für 2+ Monate ans andere Ende des Landes, also keine Fahrgemeinschaft mehr, also muss ich täglich 2x 40 Minuten fahren, um die Kinder zu bringen und zu holen und Montags auch die Betreuung übernehmen.) Die Schockzustände werden immer kürzer. Als Corona begann, war ich ca. 2-3 Wochen im emotionalen Ausnahmezustand. Als klar war, dass die Schulen langfristig geschlossen bleiben, nochmal 2 Wochen. Als die Feuer begannen und der Rauch Mitte August zu uns zog, war ich 1 Woche lang fix und fertig. Als das Camp regelmässig ausfiel, war ich 1 Nacht k.o. Als unsere Freunde uns ihre Reise eröffneten, holte ich einmal tief Luft. Es ist wie es ist. Ein geflügelter Satz hier dank Trump. Und tatsächlich ein wahrer. Wir werden immer erprobter im Umgang mit Katastrophen. Weil wir im absoluten Überlebenszustand agieren.

4. Zu viel Abstumpfung ist gefährlich. So sehr uns die Gewöhnung hilft, nicht den Verstand zu verlieren und in reiner Panik zu leben, so problematisch ist diese Geisteshaltung. Vor allem kurz vor den Wahlen. Was ist, wenn Trump einen Putschversuch unternimmt? Sind wir dann noch geschockt genug, auf die Strasse zu gehen und zu protestieren? Oder atmen wir einfach all einmal tief durch und ergeben uns in unser Schicksal?

5. Allein sein ist auch ok. Nach 7 Monaten Pandemie und Shelter-in-place habe selbst ich extrem soziales Wesen nicht mehr ständig das dringende Bedürfnis nach menschlichen Kontakten mehr. Obwohl die meisten Läden wieder geöffnet haben, geh ich nie shoppen (ausser Lebensmittel einkaufen natürlich). Das soziale und öffentliche Leben ist quasi zum Erliegen gekommen hier. Und es fehlt kaum noch jemandem. Bzw. es fehlt inzwischen allen gleich. Den Introvertierten und Extrovertierten. Klar, ne Party wäre mal wieder schön. Oder ein gemeinsamer Gottesdienst. Oder ins Theater gehen. Aber es fehlt mir auch nicht mehr so brennend wie zu Beginn.

Das ist gruselig. Ich meine, wenn nicht mal mehr ich immerzu Menschen um mich brauche, was sagt das dann über weniger extrovertierte Leute aus? Und welche Auswirkungen wird das auf unser soziales, kulturelles und kirchliches Leben haben? Andererseits, eigentlich kann ich gar nicht so weit voraus denken. Also lass ich es bleiben und lebe weiter von Tag zu Tag. (Gerade sitze ich gegen 23.00 draussen im Garten, ein Waschbär hat mir eine Weile im Baum Gesellschaft geleistet, es ist erfrischend kühl nach einem Tag mit über 33 Grad Mitte Oktober… ja, so lässt es sich leben.)