Aschermittwoch – wer trägt sein Kreuz?

„Danke, dass Sie ihre Kinder mitgebracht haben“, begrüsst mich die Dame am Eingang der Kirche und drückt mir das Programmheft in die Hand. In wenigen Minuten beginnt der abendliche Gottesdienst am Aschermittwoch. Mit Lesungen, Predigt, Aschekreuzsegen und Abendmahl. Das volle Programm abends um halb acht ohne Kindergottesdienst. Und die Dame freut sich über Theo und Toni. Erstaunlich.

Wir sind zu Besuch bei einer epsikopalen Gemeinde, zu der auch Freunde von uns gehen. Und sie machen alles richtig, was man sich wünscht. Sie können Liturgie und singen, sie predigen anregend, sie fördern Gemeinschaft und sind sozial engagiert. Und sie mögen Kinder. Nicht nur auf der Website. Sondern in echt.

Im hinteren Teil der Kirche liegen Teppiche und Spielsachen bereit (= Theos Aufenthaltsort). Es gibt eine Kinderbücherbibliothek (Tonis Platz). Während der Predigt gehen die Kinder zum Kindergottesdienst und kehren zum Abendmahl zurück. Ach, es könnte so einfach sein, wenn es einfach überall so wäre. Auf meine Frage an die Lehrerin, wie Theo sich benommen habe, antwortet sie: „Wunderbar. Alle unsere Kinder sind wunderbar.“ Da möchte ich sie spontan umarmen.

Aschermittwoch ist hier in den USA ein ganz normaler Mittwoch. Kein Feiertag. Und trotzdem bieten viele Kirchen bis zu 3 Gottesdienste an. Katholiken, Episcopale, Lutheraner, Methodisten, Reformierte, Presbyterier – alle machen mit. Und die Leute gehen hin.

Die Uhrzeiten sind arbeitsfreundlich und die Kirchen voll. Man hat die Wahl zwischen Gottesdiensten morgens 7.00, mittags, am späten Nachmittag und gegen 19.30. Alle Gottesdienste eint: die Gläubigen bekommen ein Aschekreuz auf die Stirn gezeichnet. Das trägt man dann gut sichtbar bis zum nächsten Duschen.

Und plötzlich werden Christen für wenige Stunden individuell sichtbar, in der S-Bahn und in der Stadt. Toni und Theo liebten ihre Segnung. Als es im Gottesdienst endlich soweit war, rannte Toni förmlich nach vorne. „Ich fühle mich jetzt richtig gesegnet und besonders“, sagte sie. Was für ein wunderbarer Start in die Fastenzeit.

Valentinstag für alle! Teil 2

Insgesamt 10 Menschen lernten wir innerhalb einer knappen Stunde kennen. 4 Frauen und 6 Männer. Ein Mann las gerade einen Roman, neben ihm lag ein Sandwich. Über einen Muffinnachtisch freute er sich trotzdem. Während wir mit ihm redeten, kam ein junger Mann auf uns zu, höchstens Anfang 20, gut gekleidet. „Das ist total toll, was ihr macht. Das wollte ich euch nur sagen. Gott segne euch.“

Ein Mann betete gerade sein Stundengebet mit dem Koran in der Hand. Er unterbrach kurz, ja, er esse Fleisch. „Gott segne Sie“, verabschiedete ich mich. „Gott segne Sie.“, antwortete er. Wir legten ihm sein Essen auf die Bank.

Ein alter Mann hockte auf dem Boden und hielt liebevoll die Hand seiner Partnerin. Sie sass im Rollstuhl mit müdem Gesicht. „Fröhlichen Valentinstag!“, wünschte ich und die beiden lächelten einander überrascht an. „Ist das wirklich heute?“, fragte der Mann. Ich nickte. Beide freuten sich über Brote und Muffin. Äpfel konnten die beiden nicht kauen. Wir kamen ins Gespräch. Er sei aus dem Mittleren Westen. Bevor er obdachlos geworden sein, hätte er sich nicht träumen lassen, wie gleichgültig Menschen sein könnten. „Es ist so wichtig, was Sie machen. Und dass sie ihre Kinder mitnehmen.“ Ich fühlte mich durchschaut. Na klar, das war auch eine Bildungschance für die Kinder. Vielleicht sogar vornehmlich. Jedenfalls hatte ich das geglaubt. Er erzählte, dass er für seine Freundin Schuhe kaufen wollte und sich der Verkäufer in Berkeley weigerte, sie ihm zu geben. „Ich hatte doch Geld!“, sah er mich traurig an. Er erzählte, dass er 8 Monate lang nicht wusste, wo seine Freundin war. Einfach weg sei sie gewesen und niemand habe ihm Auskunft gegeben. „Sie war in einem Heim und ich dachte schon, sie sei tot. Irgendwann kam sie wieder. Nun sind wir wieder zusammen. Gott sei Dank.“

Weiter liefen wir die Strasse hinunter. An zwei Frauen vorbei. Sie sassen mit einem Kaffee in der Hand in einem Hauseingang. Waren sie obdachlos? Ich wusste es nicht und fragte sie vorsichtshalber nicht. Wollte ja niemandem zu nahe treten. Einige Meter weiter mussten wir an der Ampel warten. Da rief die ältere der beiden: „Entschuldigung, verteilen Sie etwas?“ – „Ja, Brote.“ – „Dürften wir auch eins bekommen bitte?“ Wir drehten um und lernten Li und ihre Tochter 18-jährige Tochter Amy kennen. Li ist vor 25 Jahren aus Hongkong gekommen, hat hier gearbeitet, bis sie erst ihren Job verlor und dann vor einigen Wochen die Wohnung. Seitdem haben sie ihr Hab und Gut in 2 Kinderwagen geladen und leben auf der Strasse. Verwandte haben sie keine hier, die helfen würden. Stolz erzählt Li: „Amy will aufs City College gehen, sie hat letztes Jahr Abi gemacht.“ Und Amy lächelt schüchtern und sagt: „Heute wollte ich mich anmelden, aber ich war so fürchterlich müde.“ Ich nicke. Kann mir gar nicht vorstellen, wie man fit sein soll für eine Unibewerbung nach Nächten draussen, die auch hier kalt sind, um die 10 Grad. „Ich bewundere dich, Amy. Du musst unglaublich willensstark sein, in dieser Situation weiterzumachen und studieren zu wollen.“

Auf dem Rückweg laufen wir nochmal durch den Park. 2 Männer schlafen, einer redet mit dem Himmel und starrt in die Luft. Auf einer kleinen Mauer sitzen einige Leute, reden, lachen, hören Musik. Wir gehen auf das Grüppchen zu und bieten ihnen unsere Brote und Muffins an. Ein älterer Mann, Ray, nimmt etwas, betonend, dass er nicht mehr obdachlos sei. Er war es, viele Jahre. Aber seit 10 Jahren habe er eine kleine Wohnung. In den Park komme er, um anderen Mut zu machen. „Ich habe es geschafft, sie können es auch schaffen.“

Sein Kumpel hat noch keine feste Bleibe gefunden. Als er unsere Muffins sieht, strahlt er übers ganze Gesicht. „Oh, das ist mein Lieblingsessen. Darf ich 2 nehmen?“ – „Klar, gerne auch 3 oder 4.“, lache ich. „Danke, aber eigentlich darf ich keinen Zucker essen. Aber wann krieg ich schon mal frisch gebackene Muffins.“ Vorsichtig nimmt er sich die warmen Muffins aus der Dose und legt sie wie einen kleinen Schatz vor sich hin. Und dann erzählt er: Davon, wie fröhlich er als kleiner Junge war. Dass seine Mutter ihm kochen beigebracht hat und wie gern er bei ihr in der Küche stand. Dass er mit seinem Vater auf dem Bau und im Abriss und beim Abschleppdienst gearbeitet hat. Ich sehe ihn förmlich vor mir. Einen kleinen Jungen mit mitreissendem Lächeln. Einen jungen Mann voller Tatendrang. Ein Leben voller Hoffnungen. Was dann passiert ist? Ich weiss es nicht. Aber ich sehe nicht mehr einen anonymen Mann ohne obere Zahnreihe und in Lumpen, der eine Bierflasche in einer Papiertüte versteckt. Sondern einen Nachbarn, dem das Leben übel mitgespielt hat. Während unserer Unterhaltung beobachte ich aus den Augenwinkeln, wie Theo mit Ray redet.

Bevor wir gehen wollen, holt Ray plötzlich sein Portemonnaie hervor. Er möchte uns was geben fürs essen. Ich wehre ab, nein, das sein ein Valentinsgeschenk. Doch er insistiert. Fischt einen $5-Schein hervor und gibt ihn Theo. „Bitte, nehmt das. Ich hatte Glück. Ich durfte ein Rehabilitationsprogramm absolvieren und habe eine Wohnung bekommen. Jetzt möchte ich zurückgeben.“ Da gebe ich auf und wir nehmen das Geld dankend an. Weil ich das Gefühl habe, dass es nicht richtig wäre, Ray diese Freude zu verwehren. Auf dem Nachhauseweg überlegen wir, was wir mit dem Geld machen können. Wie wir damit mehr Menschen Gutes tun können. „Kinder, ich gebe euch noch $5 dazu, lasst euch was einfallen.“, sage ich. Noch überlegen die beiden. Mal sehen, was passiert.

Am Ende des Vormittags habe ich das Gefühl, die eigentlich Beschenkte zu sein. Die Kinder ekeln sich jetzt nicht mehr vor Obdachlosen. Die Geschichten haben sie berührt und beschäftigen sie weiter. Wir wurden mit Geschichten beschenkt. Wir wurden gesegnet. Mit mehr Segenswünschen als ich jemals in Berkeley gehört habe.

Gott segne unsere obdachlosen Nachbarn. Und gebe uns Augen und Ohren für ihre Leben und Geschichten. Damit wir nicht in ohnmächtiges Wegsehen verfallen. Damit wir in ihnen sehen, was sie sind: liebenswerte Menschen und Nachbarn.

Valentinstag für alle! Teil 1

Ich habe den Valentinstag hier wirklich lieben gelernt. Die Kinder bastelten für alle Klassenkameraden kleine Kärtchen und überlegten, was sie an dem oder derjenigen mögen. Und sie bekamen jeder 20 Karten von ihren Mitschülern, teils wirklich rührende Freundschaftserklärungen mit Liebe gekritzelt und geklebt.

Seit vielen Monaten ist bei uns die bedrückende und allgegenwärtige Obdachlosigkeit Thema. Anfangs waren die Kinder noch erschüttert, wenn sie Menschen auf der Strasse liegen sahen. Nach und nach wandelte sich dies in Ekel und Gleichmut. Ich war erst überrascht, dann traurig und konnte mir nicht erklären, was passiert ist. Zu Hause reden wir nie schlecht über wohnungslose Nachbarn. Die Kinder kennen Leah und Theo, die Familie, die wir unterstützen. Ich gucke niemanden komisch an auf der Strasse (glaub ich jedenfalls). Und trotzdem: Ekel und Gleichmut.

Eine befreundete Psychologin erklärte es mir: „Das ist völlig normal. Die Kinder sehen sich dem Elend ohnmächtig ausgeliefert. Sie halten es nicht aus und haben das Gefühl, nichts tun zu können. Also stumpfen sie ab. Und rationalisieren das Gefühl als Ekel.“ Was tun? Ich solle den Kindern zeigen, dass sie einen Unterschied machen können. „Vielleicht könnt ihr immer was Kleines in der Tasche haben zum Verschenken?“

Soweit sind wir noch nicht. Auch wenn wir schon Ideen gesponnen haben, was nützlich sein könnte. Zahnbürsten und Zahnpasta vielleicht. Oder Süssigkeiten fürs Herze.

Am 14. Februar selbst hatten die Kinder schulfrei. Eine Freundin kam morgens zu uns und das Kinderferientagscamp war komplett. Ideal, um endlich den Wunsch in die Tat umzusetzen. Wir buken Schokomuffins, die Kinder schmierten oberleckere, dick belegte Sandwiche. Dazu packten wir Äpfel und Süssigkeiten ein und gingen 7 Minuten gen Innenstadt. Dort ist ein kleiner Park, Anlaufpunkt für viele Obdachlose und Arme.

Eine kurze Unsicherheit überkam mich. Wie würden die Menschen es aufnehmen, wenn wir ihnen Essen anbieten? Ich wollte ja niemandem zu nahe treten, niemanden beleidigen. Eine Frau sass auf der ersten Bank. Sie schimpfte laut in Richtung einiger Männer. Ihr Oberkörper war halb entblösst.

Ich ging lächelnd auf sie zu: „Fröhlichen Valentinstag wünsche ich ihnen.“

Sie drehte sich zu mir um, lächelte überrascht. „Danke, das ist lieb. Ihnen auch.“

„Die Kinder und ich haben Brote gestrichen und frische Schokomuffins gebacken. Sie sind noch warm. Dürfen wir ihnen welche anbieten? Aber wirklich nur, wenn sie mögen.“, fragte ich vorsichtig.

„Gerne! Sehr gerne. Das ist wunderbar.“ Ich reichte ihr beides. Da fragte Theo schüchtern: „Wir haben auch Äpfel, mögen sie einen?“ Das Strahlen der Frau wurde noch breiter und Theo reichte ihr einen.

Da traute sich auch Toni. „Ich habe kleine Tüten mit Süssigkeiten gefüllt, bitteschön.“ Die Frau guckte die Kinder an, ungläubig fast ob der Freundlichkeit. Dann bedankte sie sich.

„Wie heissen sie?“, fragte ich und sie sagte es mir. „Lisa, ich bin Tia. Es ist mir eine Ehre, sie getroffen zu haben.“ – „Mir auch. Gott segne euch.“, antwortete sie. „Gott segne sie!“, verabschiedeten wir uns. Meine Angst war verflogen. Es war richtig, was wir hier machten.