Einmal im Monat werden in Oakland 800-1000 Menschen zu amerikanischen Staatsbürgern ernannt. Die Feier nennt sich Naturalization und findet im wunderschönen, prunkvollen Paramount-Theater statt.
„Natural“ Bürger sind eingeborene Staatsbürger. Durch die Naturalization werden Menschen quasi von Amerika adoptiert und zu Eingeborenen. Witzige Vorstellung irgendwie. Und etwas übergriffig. Die amerikanische Staatsbürgerschaft ist demnach mehr als ein Blatt Papier. Sie schafft eine neue Identität, eine zweite Haut.
Eine kleine Gruppe freiwilliger Sänger gestaltet die Feiern musikalisch und schmettert zum Beginn patriotische Lieder: herrlich schmalzig in Schusterterzen. Beim letzten Lied winken wir fleißig mit unseren Miniflaggen. Die amerikanischen Neubürger in spe klatschen fröhlich mit.
Die 13 Damen und Herren des Chores sind alle über 60, alle liberale Demokraten. Sie lieben ihr Land und verabscheuen die Politik von Trump. Eine Freundin sagte zu mir: „Dass ich hier singe, ist meine Art, gegen Trump zu protestieren. Ich heiße diese Menschen in unserem Land willkommen. Und Trump kann nichts dagegen tun. Das ist meine Mission.“
Die Lieder handeln von der Weite und Schöne des Landes, von der Freiheit und Freude, Amerika zur Heimat für alle zu machen. „Kommt her, die ihr mühselig und beladen seid“, heißt es in biblischen Anklängen. Amerika ist das gelobte Land, dass den Heimatlosen zur Heimat wird. Beim Singen des Textes muss ich an die Zeltstädte der Obdachlosen denken, an denen wir wenige Minuten zuvor vorbeigefahren sind. Das gelobte Land ist weit weg. Vielleicht besingen wir es deshalb umso inbrünstiger.
Öffentliche Schulen und Kitas sind in Amerika anscheinend chronisch unterfinanziert. Deshalb müssen sie Gelder eintreiben, zumeist von den Eltern der Schüler. Damit das nicht so weh tut, gibt es lustige Fundraiser.
Letzte Woche wurden bei Theo in der Kita die Kunstwerke der Kinder bei einer „leisen Auktion“ versteigert. Theos feuerspeiender Drache (von dem er vermutlich nur den Körper grün und lila angemalt hat oder aber plötzlich über Nacht malen gelernt hat) erzielte stolze $35 und ziert nun die Wohnung seines Freundes Wes. Fazit der Woche: 20 von 23 Bildern wurden verkauft. Reinerlös $1015! Wahnsinn.
Toni muss hingegen gerade Lose verkaufen zu $2 das Stück. Ziel der Schule sind 35 verkaufte Tickets pro Schüler. Wir sind bei 12 bisher dank freundlicher Nachbarn. Als Hauptpreis winkt ein Mini-Ipad. Hoffentlich gewinnt es keines unserer Kinder, sonst gibt’s nur Streit. Die Sieger werden beim Schultanz nächste Woche gezogen.
Letzten Freitag mixte Tonis Schulleiterin mit anderen Eltern Cocktails in einer Bar in Berkeley. Das Trinkgeld kam der Schule zugute. Etwa $40.000 pro Schuljahr muss die Schule aufbringen, um alle Programme finanzieren zu können. Und das bei gut 300 Schülern und rund 220 Familien.
Das macht es nicht einfacher, Familien aller Einkommens- und Bildungsschichten miteinander zu verbinden zu einer Schulgemeinschaft. Denn letztlich geht es immer um Geld. Und wer das nicht hat, fühlt sich schnell weniger wert. Auch wenn die Schule immer wieder betont, dass dem nicht so sei. Das Gefühl bleibt.
„Networking the American way“ hieß der Kurs, den ich gestern besuchte. Offiziell ging es um den Arbeitsmarkt und seine Mechanismen in den USA. Faktisch war es eine Lehrstunde über amerikanische Kommunikation.
In den USA werden gut 80% der Jobs über „Netzwerke“ oder „Beziehungen“ vergeben. Die meisten Stellen werden gar nicht offiziell ausgeschrieben, sondern über Headhunter und Empfehlungen vergeben.
Ein Beispiel unserer 55-jährigen Lehrerin Kate: Die Nichte (hat sie noch nie getroffen) ihrer Schulfreundin (von vor 40 Jahren) sucht einen Praktikumsplatz. Kate hat sich auf einer Party ca. 5 Minuten mit einer Frau unterhalten, die in der entsprechenden Branche arbeitet. Sie verbindet sich mit ihr auf LinkedIn und schreibt ihr einige Tage später über die Nichte der Freundin. Die Frau lässt sich den Lebenslauf zusenden und schickt ihn an denjenigen in ihrer Firma, der für Praktika zuständig ist. Die Nichte bekommt einen Platz.
Auf meine Nachfrage, was denn eine Empfehlung wert sei, wenn der Empfehlende die Empfohlene gar nicht kennt, stutzte die Lehrerin. „Man vertraut einander einfach.“
Konkret um Hilfe zu bitten, ist hier Teil der Gesellschaft. Wichtig ist der Gegenwert. Ich helfe dir, du hilfst mir, wenn ich dich bitte. Nichts wird vergessen.
Das erinnert mich an Erzählungen von unseren irakischen Freunden oder an meine eigenen Erfahrungen aus Rumänien. Ohne Beziehungen läuft gar nichts! Was haben Rumänien, Irak und USA gemeinsam? Kein staatlich gesichertes soziales Netz. Also muss es individuell geknüpft werden. Jeder ist sein eigener Headhunter, seine eigene Arbeitsagentur. Und weil das nicht funktioniert, verbindet man sich mit hunderten anderen Suchenden oder bald wieder Suchenden oder Eltern von Suchenden zu einer Mini-Arbeitsagentur. Je größer, desto besser und erfolgreicher.
Das erklärt auch die mich manchmal verwirrenden Smalltalks hier. Für Amerikaner sind 3 Dinge wichtig: Wer bin ich? Was kann/ biete ich? Was suche/ brauche ich? Diese drei Fragen sollte man innerhalb von 30-60 Sekunden auf gelassene, interessante Weise beantworten können. Immer und überall. Denn jeder Gesprächspartner ist ein potentieller Kontakt ist ein potentieller Schlüssel zum nächsten Job/ Auto/ Babysitter… Man will einander helfen, weil man nur so Hilfe erwarten kann.
Sprich, ich habe die Frage „Was machst du denn so in Berkeley?“ bisher immer falsch beantwortet. Nämlich persönlich, über Familie und Kinder gesprochen. In Zukunft wird der Teil kürzer ausfalllen und ich werde stärker artikulieren, was ich suche.
Ergebnisse des Abends:
Ich brauche ein LinkedIn-Profil.
Ich brauche Visitenkarten.
Ich muss mir darüber klar werden, was ich im nächsten Jahr arbeiten möchte und das möglichst in jedem Gespräch kurz erwähnen.
Menschen um Rat und Hilfe bei der Jobsuche zu bitten, ist hier gang und gäbe; nicht unhöflich.
Netzwerk bedeutet nicht, dass man einander wirklich kennt oder sich wenigstens schon mal begegnet ist. Netzwerk heißt, ich kenne den Weg durchs weit verzweigte Geäst von mir bis zur dänischen Königin/ dem CEO der Firma, für die ich arbeiten möchte usw.!
Tonis Klassenfoto könnte auch ein Bild der Abgeordneten der United Nation als Kinder sein. Kinder in allen Farben der Welt teilen sich das Klassenzimmer. Die meisten sind Amerikaner. Daneben gibt es ein indisches Zwillingspaar, einen chilenischen und einen australischen Jungen, zwei deutsche Mädchen. Spanisch und Englisch und Deutsch wird hier regelmäßig gesprochen, alle anderen Sprachen sind willkommen.
In Berkeley mit seinen ca. 130.000 Einwohnern ist die Wahrscheinlichkeit, Menschen aus aller Welt zu treffen, extrem hoch. Die Uni hat internationale Anziehungskraft, die Stadt ist offen, die Menschen heißen einander willkommen. Ich habe noch nie zuvor an einem fremden Ort so schnell so viele spannende Leute kennengelernt (und ich bin schon oft umgezogen…).
Man redet hier mit seinen Nachbarn, grüßt jeden auf der Straße (Toni jedenfalls lautstark) und wird gegrüßt. Man guckt nicht nur blöd (Oh, was macht der Junge da. Klettert der etwa in der S-Bahn?), sondern schnackt einfach kurz über die Situation oder wird auch mal belehrt… Aber auf jeden Fall muss ich mir nicht aus den Blicken meiner Mitmenschen zusammenreimen, was sie denken. Sie sagen es mir eh ungefragt.
Erstaunlicherweise treffe ich die meisten Menschen gar nicht „organisiert“ über die Uni. Sondern: auf dem Spielplatz, beim Sport, im Chor, bei Tonis Chor, am Schulbus, über facebook und Olio (Lebensmittelrettung) und nextdoor (NachbarschaftsApp). Das ist per se nicht ungewöhnlich. Besonders ist hier, dass sich aus kurzen Gesprächen viel schneller ein Austausch von Telefonnummern und eine Verabredung ergeben, als in Deutschland. Für jemanden wie mich, die ich ohne soziale Kontakte nicht überleben kann, ein Traum.
Ein Traum, den ich weiter träumen möchte, egal wo ich lebe.
Wenn ich so durch Berkeley radele, dann denke ich manchmal: Wow, ich fühle mich hier wirklich wohl und zu Hause. Und das nach so kurzer Zeit. Es kann nicht am Wetter liegen (bisher gab es viiiiiel Regen und weniger Sonne), nicht an der Schönheit der Stadt (sie ist weder hässlich, noch schön; unaufgeregt, grün, überschaubar), nicht an unserem Lebensstandard (niedrig). Es liegt einzig und allein an den Menschen in Berkeley. Denn hier ist die Welt zu Hause. Und ich bin so dankbar, ein Teil davon sein zu dürfen.
Die Gefängnisinsel in der Bay von San Francisco ist der Tourimagnet Nr. 1. Tickets sollte man laut Reiseführer mind. 1 Monat vorher buchen. Wir kauften sie einfach einen Tag im Voraus. Dank Wochentag und Nebensaison.
Bei strahlendem Sonnenschein bot die Fährfahrt eine herrliche Aussicht auf Bay und Brücken, Stadt und Inseln. Allein dafür lohnt sich der Ausflug schon. Alcatraz selbst ist eine karge und steinige Insel. Berühmt für die kaum 29 Jahre, in denen es als Hochsicherheitsgefängnis der USA diente bis 1963.
Die schlimmste Strafe war vermutlich schon die Lage. Jeden Tag wurden die Gefangenen beim Ausgang daran erinnert, was sie vermissten: Die Stadt, das Meer, die Freiheit. San Francisco scheint zum Greifen nah. Aufgrund der heftigen Winde und Strömungen ist es jedoch unmöglich, die 2km schwimmend zu überwinden. Ob überhaupt irgendwer seinen Ausbruch überlebt hat, ist bis heute ungewiss.
Ein Audioguide führte uns durch die alten Mauern. Klingt erstmal unspektakulär. Aber es war endlich mal ein Audioguide, der es locker mit einem Kriminalhörspiel aufnehmen könnte. Toni und Theo hörten ihn 2x komplett durch. Beim 2. Mal erzählten sie uns ständig, was sie gerade hörten. So spannend war es. Unsere 5 Stunden auf der Insel verflogen im Nu!
Ein paar Anekdoten: Jeden Abend war es den Gefangenen erlaubt, eine Stunde lang zu musizieren. Jeder in seiner eigenen Zelle natürlich. Alle in einem großen Gebäude. Es muss ein Höllenlärm gewesen sein. Manche spielten tatsächlich Instrumente, aber die meisten klopften mit Löffeln gegen die Gitter oder schlugen Blechtasse und Blechnapf gegeneinander.
Gegen die Langeweile gab es eine riesige Bibliothek. Mancher Gefangene las bis zu 100 Bücher im Jahr. Allerdings waren alle Seiten mit kriminellen, blutigen oder sexuellen Geschichten rausgerissen.
Die Verpflegung war gut. Denn ein voller Bauch rebelliert nicht gern.
Grundsätzlich galt die Unterbringung als modern. Gegen die Gefangenen wurde keine Gewalt angewendet (mal abgesehen von begrenzter Einzelhaft in absoluter Dunkelheit für bis zu 11 Tage). Die viele Zeit in den Einzelzellen galt als Chance, sein Leben für sich zu überdenken und so zu bessern.
Auf der Insel lebten nicht nur die Gefangenen, sondern auch viele Wärter und der Direktor mit seiner Familie. Für die Kinder war es ein kleines Paradies des Freiraums. „Es war wie eine idyllische Kleinstadt mit der einen schlechten Nachbarschaft eben. Da sollten wir nicht hingehen.“
Highlight des Tages und Special Guest war eine Signierstunde mit William Baker, einem ehemaligen Gefangenen von Alcatraz. Er hat ein Buch darüber geschrieben. Laut seinem Lebenslauf landete er nach drei Ausbruchsversuchen aus anderen Gefägnissen mit Anfang 20 in Alcatraz. Die drei Jahre auf der Insel nutzte er und lernte das „Handwerkszeug“ fürs Schecks fälschen. Fortan sahen die nächsten 50 Jahre seines Lebens so aus: Entlassung, Fälschungen, Erwischt, Gefangen, Entlassung, Fälschungen, Erwischt, Gefangen usw. usw. Ein absolut unbelehrbarer Krimineller also. Heute ist er Anfang 80. Sprich, seit ca. 7 Jahren in Freiheit. Und da sitzt er als Ehrengast und signiert sein im Selbstverlag erschienenes Buch. Irgendwie skurril.
In den USA gibt es inzwischen ein Gesetz, dass Schwerverbrecher ihre Geschichten zwar noch veröffentlichen dürfen. Aber das damit verdiente Geld geht an Hilfsorganisationen. So soll verhindert werden, dank der eigenen Schandtaten reich zu werden. Berühmt werden geht immer noch. Und wenn es nur für einen Tag im Museumsshop von Alcatraz ist.
Einziger Wermutstropfen: Die Geschichte von Alcatraz vor und nach der Gefängniszeit wird kaum beleuchtet. Die Insel war ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine Militärbasis samt Fort nach Ende des mexikanisch-amerikanischen Kriegs. (Kalifornien war bis 1848 mexikanisch. Der Goldrausch begann direkt danach. Echtes Pech für Mexiko!) Im amerikanischen Bürgerkrieg wurde San Francisco von Alcatraz aus verteidigt. Später fungierte es als Militärgefängnis. Auch Indianer wurden inhaftiert. Der Grund: Sie weigerten sich, ihre Kinder auf staatliche, christliche Internate zur Umerziehung zu schicken.
In Erinnerung daran, aus Wut über die kontinuierlichen Enteignungen und aus Protest gegen den Umgang mit Indianern, besetzten 1969 Studenten die Insel für 2 Jahre. Sie forderten, hier ein Bildungs-, Ökologie und künstlerisches Zentrum aufzubauen. Ergebnis: Präsident Nixon unterzeichnete ein Gesetz, dass Indianern grundsätzlich mehr Rechte zur Selbstverwaltung erlaubt.
Fun-Fact: Alcatraz ist wahrscheinlich der einzige Ort in der Bay-Area, an dem KEINERLEI Essen und Trinken verkauft wird.
„Ich bin Pastorin.“ Die Reaktionen auf meinen Beruf waren ja schon immer spannend. Von „Oh“ (echt???) zu „Oh“ (coooool!!) zu „Oh“ (Hilfe!). Neu ist hier das „Oh“ (Und was soll das jetzt heißen? Hat die überhaupt studiert? Kann die was?).
Pastor kann in den USA so ziemlich jeder werden. Er braucht nur eine Kirche oder gründet einfach eine, nennt sich Pastor. Fertig. Ein Studium ist nicht zwingend erforderlich. Schon gar keine 6 Jahre Uni plus 2 1/2 Jahre Vikariat. Um hier lutherischer Pastor zu werden, muss man: 1. einer lutherischen Kirche angehören. 2. ein zweijähriges lutherisches Seminar besuchen und 3. ein Jahr Vikariat absolvieren. Ziemlich überschaubar. Gelernt wird nur das, was man fürs Pfarrleben unbedingt wissen sollte. (Und vermutlich nur das, was wir deutschen Volltheologen einige Jahre nach unserem Examen nicht wieder vergessen haben.)
„Ich bin ordinierte Pastorin.“ Ok, das macht es nicht besser. Denn ordiniert werden kann hier jeder. Innerhalb von wenigen Klicks. Die „Church of Life“ bietet das z.B. online an. Preis fürs Ordinationsgesamtpaket: $29. Der Andrang ist gewaltig. Denn wer „ordiniert“ ist, darf in den USA Menschen verheiraten. Ganz legal, mit allen rechtlichen Konsequenzen.
Eine Bekannte erzählte, sie habe ihre Freunde auf diese Weise getraut. „Ich war mir sicher, dass das nicht funktionieren kann.“, erzählte sie lachend. „Aber am Ende waren die beiden wirklich verheiratet und ich hatte alle Urkunden im Namen des Staates und der „Church of Life“ unterschrieben.“ Sie ist ja offiziell ein „ordained minister“, obgleich Jüdin. Hier geht alles.
Eine dänische Mitsängerin in meinem Chor ist ebenfalls Ordinierte der „Church of Life“. Um in den USA den Job des Standesbeamten machen zu dürfen, braucht man offensichtlich kein Staatsbürger zu sein. Ordiniert reicht.
Der historische Hintergrund: Während des Vietnamkriegs war es für ordinierte Soldaten weniger gefährlich. Als „Feldgeistliche“ wurden sie seltener an die Front geschickt. Daraufhin entstanden alle möglichen Minikirchen mit einer Vielzahl an Pastoren. Ordination als Lebensretter.
Und ich frage mich, was gewesen wäre, wenn es am Ende nur noch Soldatenpastoren gegeben hätte. Wäre der Krieg schneller vorbei gewesen? Unblutiger? Kann eine Pro-Forma-Ordination einen Sinneswandel bewirken? Wäre die Welt besser, wenn alle ordiniert wären? Fragen über Fragen.
Gefragt, was ich mache, antworte ich inzwischen: Ich bin lutherische Pastorin mit einem PhD in „Religious Studies“. Seriöser wird’s nicht.
Schon das 2. Jahr feierte die deutsche St. Matthäus Gemeinde ihren Gottesdienst am Aschermittwoch gemeinsam mit der spanisch-sprechenden lutherischen Gemeinde um Pastorin Monique. Eine echte Latina: Hübsch, gertenschlank, charismatisch, herzlich – ein laufendes Herz.
Aschermittwoch wird von amerikanischen Lutheranern traditionell mit einem Bußgottesdienst gefeiert, an dessen Ende alle mit einem Aschekreuz auf der Stirn gesegnet werden. Das lässt man dann den ganzen Tag drauf. Witzigerweise vergaß ich mein Stirnkreuz ziemlich schnell. Wunderte mich nur, warum ständig Menschen auf der Straße und in der Bahn mich zukamen und fragten „Ist heute Aschermittwoch?“. Abends guckten wir FoxNews. Wir wollen uns ja als gute Demokraten nicht nur in unserer eigenen Blase bewegen. Die Nachrichtensprecherin trug auch ein Aschekreuz. Und ich fragte mich: „Welche gesellschaftlichen und politischen Schlussfolgerungen ziehen Menschen hier eigentlich, wenn ich mich offen als Christin zu erkennen geben?“
Die spanische Maria-und-Marta-Kirche ist umwerfend. Ein schlichtes Kirchlein, ein großer, heller Raum, in bunten Farben angemalt. Nachts fungiert sie als Obdachlosenheim.
Verstörend wirkt der Altarraum. Ein blonder Jesus, der aussieht wie eine Mischung aus Trump (Augenpartie), Johnny Depp und Leonardo di Caprio wird von zwei lateinamerikanischen Frauen angebetet. Wahlweise ein rassistisches oder koloniales Narrativ. Darauf angesprochen, sagte Pastorin Monique: „Du hast Recht, es stört mich auch enorm. Irgendwann nehme ich mir dunkle Farbe und übermale seine Haare.“ Ich hoffe, sie macht es bald. Ich wäre gern dabei.
Der Gottesdienst selbst war ein Pfingstereignis im Kleinen. Statt einer Predigt erzählten 2 deutsche und 2 spanische Gemeindeglieder von ihren Erfahrungen mit dem Tod. Sei es durch eigene schwere Krankheit oder den Tod geliebter Menschen. Sie erzählten bewegend, wie die schweren Zeiten ihren Glauben gestärkt und verändert haben. Wir sangen, beteten und lasen auf deutsch, spanisch und englisch. Kaum einer von uns ist in Amerika geboren. Bis heute haben nicht alle die amerikanische Staatsbürgerschaft. Trotzdem repräsentierten wir Amerika, dieses Einwanderungsland, gebaut aus allen Kulturen dieser Welt und individuellen Lebensgeschichten, vereint in der Hoffnung auf ein gutes Leben.
Im Anschluss gab es ein wahres Festmahl. Burritos und Pupusas, Salat und Fleisch, Wein und Torte. Karfreitag feiern wir wieder gemeinsam. Diesmal bei uns in St. Matthäus. Ganz deutsch mit Kaffee und Kuchen.
Die Bay Area bietet wirklich alles, was das Herz begehrt. Meer und Strand, Berge und Parks, grandiose Museen, Theater, Konzerthallen. Leider kostet das meiste viel. Wer hier Geld hat, kann paradiesisch leben.
Einige Tage lang war ich deshalb ziemlich deprimiert. Dann erwachte mein Kampfgeist und ich googelte zwei Nachmittage lang nach kostenlosen bzw. günstigen Freizeitaktivitäten.
Mit einer kostenlosen Bibliothekskarte bekommt man in vielen Museen einmal pro Jahr kostenlosen Eintritt. Manchmal gilt dies nur für 1 Erwachsenen, mal für 2, mal für Kinder, teilweise für die ganze Familie. Meine Exeltabelle schlüsselt mir das detailliert auf 🙂
Zudem bieten die Bibliotheken tolle Programme für Kinder: Musikstunden, chinesische Neujahrskarten basteln (Toni liebte es und verschenkte sie zum Valentinstag, Theo guckte Bücher an), Bienentag, Lego bauen – jeden Monat gibt es Überraschungen. Achso, und Bücher kann man natürlich auch nach Herzenslaune leihen. Und sogar 7 Filme im Monat streamen!
An jedem 1. Montag – Sonntag eines Monats bieten verschiedene Museen freien Eintritt, genial.
San Francisco kann man dank kostenloser Stadtführungen erkunden. Dachgärten laden zum Verweilen und Picknicken ein.
Schließlich fand ich eine Webseite, die, gäbe es sie nicht schon, von mir hätte sein können. „Funcheap“ heißt sie und informiert über kostenlose Events und verlost Eintrittskarten. Einmal hab ich schon gewonnen. Und das, obwohl ich NIE gewinne. Nicht mal bei der Tombola im Kindergarten. Hier scheint sich mein Glück gedreht zu haben. Hier gewinne ich ständig.
Toni kommt begeistert nach Hause. „Mama, weißt du was die Lehrerin jetzt immer zum Mittagessen sagt zu uns? Guten Appetit. You may eat!“
Ich gucke etwas zweifelnd und frage nach. Ob Toni auch sicher ist, dass das deutsch war? Ob die Lehrerin nicht gesagt hätte „Good appetite“? Nein, Toni ist gewiss.
Einige Tage später frage ich Tonis Schulfreundin. Sie bestätigt. Zum Essen heißt es nichtmehr „Enjoy your food!“, sondern nun „Guten Appetit. You may eat!“
In meinem Donnerstagskurs lerne ich Dinge wie „das Andere normalisieren“. Toni erlebt es schon.
Einige Tage später steigt Toni wieder ganz aufgeregt aus dem Schulbus. „Heute musste die ganze Klasse auf deutsch bis hundert zählen. K. und ich haben es ihnen beigebracht.“
Kurz zuvor hatte ich gelernt, wie wichtig es für echte Gleichbehandlung aller Menschen ist, die jeweils andere Sicht einzunehmen. Wie ist es, wenn ich plötzlich „anders“ bin? Wie ist es, wenn ich, obwohl in der Mehrheit, nichts verstehe? Wie ist es, wenn eine Minderheit für eine gewisse Zeit die Regeln aufstellt? Donnerstagabend war das viel Theorie und Vorstellungsleistung. Toni lebt es.
Gestern musste ich Tonis Lehrerin einfach mal umarmen. Weil sie unglaublich ist.
Letzte Woche gewann ich Tickets zu einer Veranstaltung der New York Times. Es ging um Immigration in die USA. Auf dem Podium saßen 2 Journalisten, 1 Anwältin für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge und 1 Frau, die sich mit ihrer NGO um „illegale Bürger“ in den USA kümmert.
Das Ziel des Abends: Immigranten eine Geschichte geben, über Schwierigkeiten der Einwanderung und rechtliche Schritte aufklären.
Die USA erleben seit Jahren illegale Einwanderung aus Mittel- und Südamerika. Trumps Lösung ist die berühmt-berüchtigte Mauer, derentwegen wir hier z.Z. im nationalen Notstand leben. Kamen bisher zumeist junge, arbeitssuchende Männer, machen sich nun immer mehr Familien auf die gefährliche Reise und bilden große Karawanen.
Aber was passiert eigentlich mit den Menschen, die an der Grenze oder in den USA illegal aufgegriffen werden? Manche werden direkt abgeschoben, viele beantragen Asyl, werden abgelehnt und dann abgeschoben. Andere tauchen zwischendurch unter. Am schlimmsten ist es für die unbegleiteten Kinder. Für sie gibt es ein vierstufiges System: Zuerst landen sie in einigermaßen gut organisierten Heimen. Ohne Psychotherapie für die oft mehrfach traumatisierten Kinder. Wer sich daneben benimmt, kommt in ein strengeres Heim. Wer nochmals Regeln bricht, landet im Jugendgefängnis. Hier sind die Kinder bis zu 23 Stunden am Tag in ihren Zellen. Elektroschocks und Einzelhaft sind übliche Sanktionen. „Das ist für viele genauso traumatisierend wie all das Schlimme, vor dem sie geflohen sind.“, erklärt die Anwältin. „Die psychischen Schäden, die unser Rechtssystem diesen Menschen zufügt, sind irreparabel!“
In Amerika ist man mit 13 strafmündig. Theoretisch haben die Kinder das Recht auf Anwälte, praktisch stehen die meisten irgendwann allein vor dem Richter. Denn der Staat stellt keine Pflichtverteidiger, die NGOs sind mit der Zahl der Fälle heillos überfordert. Aufgrund der hohen Zahl werden inzwischen Militärbasen umgenutzt als Auffanglager für Minderjährige.
Das System soll abschrecken. Tut es das? Ein Journalist begleitete eine der riesigen Karawanen über Monate. Er erzählt: „Die Leute wissen, was sie erwartet. Aber sie können es sich nicht vorstellen.“ Viele hofften, dass ihr Wunsch, in Amerika hart zu arbeiten, die Herzen der Grenzbeamten erweichen würden.
Wer es unbemerkt über die Grenze schafft, lebt fortan illegal in den USA. Und das teilweise ein ganzes Leben lang. Denn es gibt keinen legalen Weg, vom illegalen zum rechtmäßigen Bürger dieses Landes zu werden. Oder, wie es die Anwältin formulierte: „Mein Großvater kam mit dem Schiff aus Russland, schrieb seinen Namen auf ein offizielles Stück Papier und war Amerikaner. Diese Möglichkeit besteht heute nicht mehr.“
Die ca. 11 Millionen „illegalen US-Bürger“ leben, studieren, arbeiten hier. Besonders hart trifft es all diejenigen, die als Kinder illegal in die USA kamen. „Dreamer“ werden sie genannt. Sie kennen keine andere Heimat als die USA, das Land ihrer Staatsbürgerschaft haben sie nie wieder besucht. Von ihnen berichtete die NGO-Leiterin.
Interessant war, welche Geschichten sie wählte.
Die Geschichte von Mary. Als Kind in die USA gekommen mit ihren Eltern. Nach der Highschool fing sie an zu studieren. Ein finanzieller Notfall in der Familie zwang sie zur Entscheidung: der Familie helfen oder studieren? Sie wählte die Familie. Jetzt ist sie 35 und will ihren Traum, Mathelehrerin zu werden, wahr werden lassen. Dafür studiert sie an der Abenduni, arbeitet 40 Stunden pro Woche für den Lebensunterhalt von sich und ihren beiden Kindern. Manchmal sei sie der Verzweiflung nahe. „Aber dann sagt sie sich: Ich muss es schaffen. Ich muss meinen Kindern zeigen, dass es nie zu spät ist für einen Neuanfang.“
Die Geschichte von einem Studenten, der Biochemie in Stanford studierte und mit Bestnote abschloss. Als Illegaler darf er jedoch nicht in seiner Profession arbeiten und muss weiterhin Teller waschen und kellnern. Er bekam ein Promotionsstipendium aus Oxford und lebt nun seit 2 Jahren dort, hat inzwischen die britische Staatsbürgerschaft. In die USA darf er nie wieder einreisen. Seine Eltern wird er also erst wiedersehen, wenn sie endgültig zurück nach Mexiko gehen.
Die 1. Geschichte berührte emotional, die 2. Geschichte führte im Publikum zu merklicher Unruhe. Beides sind Geschichten des amerikanischen Traumes. Geschichten von hart erarbeitetem Aufstieg an deren Ende der Erfolg stehen sollte. Abschlüsse und Geld – das zählt hier. Und zu hören, dass einem Menschen trotz bester Ausbildung die Türen verschlossen bleiben, rüttelt an den Grundfesten dieses Landes.