Wenn die Demenz das Englisch auffrisst

Als Seelsorgerin besuche ich natürlich auch Gemeindeglieder und Freunde der Gemeinde (also die, die keinen Beitrag zahlen). Eine Frau bat mich, ihre Mutter zu besuchen. Sie sei dement, es ginge stetig bergab, sie wisse nicht, wie lange sie noch ansprechbar sei.

Also nahm ich den Zug, wurde dann von ihr abgeholt mit dem Auto und kam nach einer guten Stunde in ein Altenheim. Komplett dekoriert im Stile der 1950er. Also zu Zeiten der Jugend der jetzigen Bewohner. Viel Tünneff, aber schnuckelig.

Im Fernsehzimmer auf der Demenzstation lief eine Verkaufsshow, die Bewohner löffelten Eissoße oder wurden gefüttert. M. saß apathisch in ihrem Rollstuhl, reagierte nicht auf ihre Tochter oder mich. Also baten wir einen Pfleger, sie ins Zimmer zu fahren, damit wir ungestört wären.

Es würde ein Gespräch zu Dritt sein. Eigentlich ein No-Go in der Seelsorge. Aber ich brachte es nicht übers Herz, die Tochter rauszuschicken. Zugleich kämpfte ich gegen die Versuchung, mehr über M. zu reden als mit ihr. Und nach und nach geschah das Wunder. M. führte ein Gespräch mit mir. Auf deutsch. In erstaunlich klaren Worten, teilweise Sätzen oder gar Geschichten. Ich sang ihr mit verschnupfter Stimme „Geh aus mein Herz“ vor und sie bat mich, weiterzusingen. Sie hielt mich für ihre Schwester, umfasste meinen Arm und entspannte sich.

Ihre Tochter kämpfte derweil mit ihren Emotionen. So unfassbar war, was sie erlebte. Ihre Mutter sprach wieder, nannte sie mit Namen, reagierte. Ich könnte es meinen magischen Seelsorgefähigkeiten zuschreiben. Vermutlich war es einfach die deutsche Sprache. M. redete ausschließlich von Dingen, die 50 Jahre zurücklagen. Also in einer Zeit, in der sie kaum Englisch sprach. Sie hat ihr Englisch einfach vergessen. Ihre Tochter aber versteht zwar Deutsch, kann es aber nicht sprechen. Und so fehlt den beiden eine gemeinsame Sprache.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert