Chor: Gemeinsam singen im ständigen Wettbewerb

Ich habe riesiges Glück. Ich habe einen richtig guten Chor gefunden in Berkeley. Um hineinzugelangen, musste ich ein Vorsingen bestehen. Kein Ding, dachte ich mir, singen kann ich definitiv. Aber, holla die Waldfee, es war schwerer als gedacht. Nach einem kurzen Einsingen hielt Chorleiter Mark mir einen Notenzettel hin, fragte mich nach der Tonart, gab mir den 1. Ton und dann hieß es: A-capella vom Blatt singen. Ich schlug mich mehr schlecht als recht. Zum Glück überzeugte mein Vortragsstück und ich wurde aufgenommen.

Im Chor singen ist hier nicht wie in Deutschland. Chorsänger hier haben singen gelernt. Gesangsunterricht genossen zu haben ist hier die Norm. Ohne Ausbildung schafft man es nicht in den Chor. Chormitglied zu sein ist hier eher wie im Orchester zu spielen. Man muss sein Instrument vorher beherrschen.

Nun sollte man meinen: Wer drin ist, ist drin. NEIN, das wäre nicht amerikanisch. Hier geht es immer um Wettbewerb und Weiterentwicklung. Ich bin im A-Chor. Die Pros sind im C-Chor. Witzigerweise sind das 2/3 des A-Chores. Wenn wir getrennt proben, fühlen wir Übriggebliebenen uns als Elite. Weil in der Minderheit. Für den C-Chor hätte ich nochmal vorsingen müssen. Hatte aber keine Lust. Vielleicht im Herbst. Vielleicht gar nicht. Weil es fast noch elitärer ist, nicht im C-Chor zu sein und die ganze Zeit von allen anderen gefragt zu werden: „Du hast so eine tolle Stimme, warum bist du nicht im C-Chor?“ Das ist die echte Elite 🙂

Komplimente, Komplimente, Komplimente!

„I love your bike!“ ruft mir eine Frau beim Aussteigen aus der S-Bahn zu. „Great bike“, sagt ein anderer Radfahrer im Vorbeifahren. Herrlich! Kein Tag vergeht hier, ohne dass ich Komplimente bekomme. Oberflächlich? Klar. Aber wunderschön! Es schmeichelt meiner Seele, wenn mich die Kindergärtnerin begrüßt mit: „Wow, was für ein schöner Mantel!“ Es zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen, wenn meine Chorsitznachbarin meine Strickjacke lobt. Denn ich fühle mich in diesem kurzen Moment angesehen.

Heute hab ich das 1. Mal selbst Komplimente verteilt. Als Norddeutsche muss ich das erst wieder üben. Und es bereitet mir Freude, Freude zu verbreiten. Toni hingegen ist ein absolutes Naturtalent. Neulich beim Kirchencafé sagte sie zu der älteren Dame neben sich als Gesprächseinstieg: „Du hast aber schöne Ohrringe.“ Eine Woche später trafen sich die beiden wieder und Toni bemerkte: „Heute hast du auch sehr schöne Ohrringe an, aber andere als letztes Mal.“ Die Dame strahlte übers ganze Gesicht!

Ist das eine inflationäre Verwendung von „lieben“ und „mögen“? Eine Entwertung der Begriffe? Geht das überhaupt? Ich werde auf jeden Fall wieder üben, an anderen Menschen das Wunderschöne zu sehen und es ihnen auch zu sagen. Egal, ob ich sie kenne oder nicht. Weil es einfach schön ist, schön zu sein. Und weil es noch schöner ist, wenn es ein anderer ausspricht.

Rasse? Weiß (700)

Ob es verschiedene menschliche Rassen gibt? In den USA lautet die Antwort definitiv JA. Und ein Rassist ist hier, wer das verneint. Da muss ich jetzt lernen, umzudenken.

Bei jeder Anmeldung, ob bei Kita, Schule oder Chor, wird die Rasse abgefragt. Optionen sind: asiatisch, schwarz, latino, Ureinwohner, weiß. Jede Rasse hat eine Nummer. Weiß ist 700. Auf manchen Bögen kann man sogar die Prozentzahl der jeweiligen Rassenanteile angeben. Extrem befremdlich für uns. Mein erster Impuls war: Was für ein Quatsch. Das befördert doch nur die Segregation.

Wie so oft im Leben, ist es mal wieder nicht so einfach. Dass die Rasse angegeben werden muss, verdankt sich einem Minderheitenschutzgesetz, für das Martin Luther King Jr. damals kämpfte. Ziel ist es, über bestimmte Quotenregelungen Bildungschancen für Kinder aus Minderheiten (also alle nicht-weißen Rassen) zu eröffnen. Seitdem Kalifornien dieses Gesetz für die Unis gekippt hat, ist der Prozentsatz an schwarzen und andersfarbigen Studenten massiv gesunken.

Nun könnte man grundsätzlich argumentieren, dass es ja an der Uni nicht um Rasse, sondern um Können geht. Da jedoch die Bildungsvoraussetzungen noch immer extrem unterschiedlich sind, bedarf es anscheinend auch im 21. Jahrhundert noch einer Quote. Abschaffen wollen diese Quote zur Zeit vor allem weiße, alte Männer…

Brot für die Hunde – Nudeln für die Menschen

Pastorin Kerstin und ich laufen durch San Francisco. Ein vielleicht 20-minütiger Fußweg zur Bahn im Zentrum der Stadt. Am hellerlichten Sonntag. Wir biegen um eine Kurve und sind mitten im Slum. Auf den Fußwegen liegen, sitzen, stehen Obdachlose. Einige bieten uns Marihuana zum Verkauf an (obwohl Kerstin im Colarhemd eindeutig als Klerikerin erkennbar ist.) Die Glücklichsten haben ein Zelt. Die meisten vegetieren vor sich hin.

Plötzlich kniet vor mir eine alte Frau. Sie klaubt mit den Fingern Nudeln vom Boden, die irgendwer im Vorbeigehen fallen ließ. Sie isst die Nudeln, so dreckig wie sie sind. Ich bekomme eine Gänsehaut, so erschüttert bin ich.

Es gibt in der Bibel bei Markus eine Geschichte von der syrophönizischen Frau. Sie trifft Jesus und bittet ihn, ihre Tochter zu heilen. Jesus weigert sich mit der Begründung, sie sei keine Jüdin, kein Kind Gottes: „Laßt zuerst die Kinder satt werden, denn es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.“ Und die Frau antwortet ihm: „Du hast Recht, Herr, aber auch für die Hunde unter dem Tisch fällt etwas von dem Brot ab, das die Kinder essen.“ Diese Geschichte hat mich schon immer geärgert. Wie Jesus mit dieser Mutter umgeht. Wie sehr sie sich erniedrigen muss, um seine Hilfe zu bekommen. Zugleich ist es eine wunderbare Geschichte, die zeigt: Jesus musste erst lernen, dass er zu allen Menschen gesandt ist. Nicht nur zu Juden, nicht nur zur Christen. Und Jesus hat es gelernt, nicht zuletzt dank der Syrophönizierin, die für ihre Tochter alles getan hätte. Sogar vom Boden gegessen. Jetzt habe ich ein Bild zu der Geschichte. Und es treibt mir die Tränen in die Augen.

Rumänien ist nichts dagegen I: Obdachlosigkeit

Ich bin mir nicht ganz sicher, für wen der Vergleich schwerer zu ertragen ist: meine rumänischen oder meine amerikanischen Freunde. Aber ich hatte in den letzten Wochen immer wieder das Gefühl: Das ist hier schlimmer als in Rumänien. Der Straßenbelag ist eine Katastrophe, die Autobahnen hier haben Schlaglöcher (in Rumänien übrigens nicht, gibt halt kaum welche dort…), vor allem aber die Armut.

In Rumänien habe ich fürchterliche Armut gesehen. Obdachlose im eisigen Winter auf den Straßen von Bukarest. Bettelnde alte Mütterchen, die Mitleidsblumen verkauften, zerlumpte Kinder.

Hier ist die Armut noch erbärmlicher. Weil sie hoffnungslos ist und urban. Weil es nicht einmal mehr Blumen oder Äpfel zu verkaufen gibt, um sich selbst zu helfen. Weil hier Familien nicht mal mehr in Blechhütten hausen, sondern einfach auf der Straße. Wenn sie Glück haben, campen sie mitten auf dem Fußweg. Oder kommen für eine Nacht in einer Notunterkunft unter. Aus der sie morgens um 6.30 wieder rausmüssen. Andere leben in ihren Autos oder können sich ab und an ein Motel leisten.

Obdachlos wird man hier relativ „leicht“. Die Gründe sind interessanterweise dieselben, die uns in St. Petersburg im Mai 2018 genannt wurden: Krankheit, Jobverlust (Arbeitslosengeld gibt es nur 6 Monate und davon kann man keine Miete zahlen), horrende Mieten (Familien zahlen 50-70% ihres Einkommens für die Miete; bei uns sind es 60%…), Häusliche Gewalt. Klar, auch Drogen. Aber die meisten beginnen damit erst auf der Straße.

Im Süden von Berkeley erweitert sich die „Zeltstadt“ der Obdachlosen täglich. Auf den Straßen begegnen sie einem immer und überall. In der S-Bahn schlurfen die Verlorensten unter ihnen umher, denn hier ist es trocken und warm.

Wir erleben hier täglich eine menschliche Misere, von der ich nicht geglaubt hätte, dass es sie in einem westlichen Industriestaat gibt. Viele der Obdachlosen sind psychisch krank und bräuchten dringend Hilfe. Zugleich ist dies zum Großteil ein Grund für ihre Obdachlosigkeit. Unter dem damaligen Governor Ronald Reagan wurden in den 1980ern die meisten Psychiatrien geschlossen. Wer heute an einer Depression oder Burnout oder gar etwas Schlimmerem erkrankt und vorher nicht bzw. nicht besonders gut krankenversichert war, hat ein extrem hohes Risiko, auf der Straße zu landen.

Das macht den Umgang mit vielen Obdachlosen ambivalent. Einerseits empfinde ich enormes Mitleid und möchte helfen. Andererseits warnen mich alle vor zu viel Kontakt. Weil man eben nie weiß, ob und wie krank der andere ist und zu welchen Handlungen er deshalb fähig ist. Zuerst dachte ich: Das ist wieder typisch. Man schützt sich mit eingeredeter Angst davor, das Elend anzusehen. Aber einige skurrile Erlebnisse später bin ich etwas vorsichtiger geworden.

Situation 1: Toni und ich gehen zur S-Bahn nach der Kirche, es stinkt (wie immer) nach Marihuana und ich erkläre Toni, was das ist. Da sagt sie: „Mama, der Mann hat gerade direkt vor meiner Nase auf die Straße gepinkelt.“

Situation 2: Toni und ich sind mit unseren Rädern unterwegs und nehmen den Fahrstuhl. Es stinkt entsetzlich nach Urin. Auf dem Rückweg weigert sich Toni standhaft, noch einmal einzusteigen. „Mama, du glaubst doch nicht, dass ich nochmal in so ein Stinkeding geh.“ Ich muss wohl oder übel 2 Räder die lange Treppe runtertragen.

Situation 3: Toni und ich steigen in die S-Bahn und setzen uns hin. Im Vierer neben uns sitzt eine Familie. Keine Minute später hat Toni den nackten Hintern des Vaters quasi im Gesicht. Wenige Zentimeter waren dazwischen…

Situation 4: Ich warte auf die S-Bahn, bin ziemlich in Gedanken versunken. Die Bahn fährt ein, die Tür öffnet sich, ein Mann kommt schwankend raus. Ich gucke ihn geistesabewesend an, stutze, gucke nochmal: seine Hose hängt ihm in den Kniekehlen (das ist hier noch nichts Ungewöhnliches), er trägt keine Unterhose (das ist ungewöhnlich). Trotz aller FKK-Erfahrung war ich kurz geschockt. Und froh, dass Toni diesmal nicht dabei war. Denn sein Penis baumelte auf ihrer Augenhöhe. Neben mir standen zwei Sicherheitsbeamte der Bahn. Sahen den Mann, lästerten über ihn, taten nichts. Keiner, der ihn gebeten oder ihm gar geholfen hätte, die Hose hochzuziehen.

Erschreckend viele junge Menschen, fast noch Kinder, leben auf der Straße. Ein Grund: Pflegefamilien werden nur bis zum 18. Geburtstag des Pflegekindes bezahlt. Danach landen die Jugendlichen oft auf der Straße. Ohne Highschool-Abschluss, ohne Ausbildung, ohne Geld.

Dass die Obdachlosigkeit ein politisches Problem ist, sickert dennoch erst langsam durch. Zu tief sitzt der Glauben an folgendes Märchen: „Hier gibt es so viele Obdachlose, weil das Wetter so gut ist. Die Menschen kommen aus den gesamten USA hierher, um hier auf der Straße zu leben. Dass es Notunterkünfte gibt, macht es nur attraktiver.“

Rein statistisch ist das falsch. Selbst die Doku, die wir auf auf Fox-News sahen, musste das zugeben. Über 90% der Obdachlosen waren zuvor als Bürger mit Wohnsitz dort gemeldet, wo sie nun auf der Straße leben. Das anzuerkennen, würde bedeuten, dass die gesamte Sozialpolitik gescheitert ist. Und das kann sich kein Politiker leisten…



Hey Sister!

Sonntag in der S-Bahn. Wie eigentlich bei jeder Fahrt läuft eine Obdachlose durch den Zug. Ruhig steht sie da und erzählt: „Ich habe 3 Kinder: 7, 9 und 13. Heute Nacht haben wir in einer Unterkunft geschlafen. Seit 2 Monaten sind wir obdachlos, nachdem wir vor häuslicher Gewalt geflohen sind. Jetzt sind die Kinder in der Schule und ich versuche, Geld für unser Abendessen zu besorgen und Essen für eine Schlafunterkunft. Ich bettel nicht. Ich bin nur eine Mutter, die versucht, für ihre Kinder zu sorgen. Bitte helfen sie mir. Gott segne sie.“

So schnell und sehr man hier abstumpft angesichts all des unfassbaren Elends, diese Frau bewegte die Menschen. Viele gaben ihr etwas Geld. Neben mir saß eine andere Obdachlose mit all ihrem Hab und Gut in 2 Müllsäcken. Sie las ein Buch. Als sie die junge Mutter hörte, rief sie durch den Zug: „Hey, Sister!“ Schließlich standen sie einander gegenüber, redeten kurz, teilten ihr Leid und die ältere empfahl der jüngeren eine sichere Unterkunft für alleinstehende Mütter. Und ich stand daneben und hätte heulen mögen über diese Ungerechtigkeit und meine eigenen, geringen Möglichkeiten, zu helfen: Ein Dollar auf den heißen Stein des Überlebens.

Kulturschock: Öffentliche Emotionen

Letzte Woche Donnerstag gab es in Tonis Schule ein Treffen der „Parent Teacher Association“. Wir hatten keine Ahnung, worum es gehen würde. Aber es gab Pizza für alle und Kinderbetreuung – mehr gute Gründe brauchten wir nicht, um hinzugehen.

Das Thema des Abends war „kulturelle Diversität“ und ein richtiger Umgang damit. Dazu schreib ich demnächst mehr, weil ich ab Ende Februar einen 6-wöchigen Abendkurs zum Thema belege.

Grundsätzlich, das habe ich inzwischen gelernt, werden hier vor allem „Stories“ erzählt. „Let me share a story with you!“ ist einer der häufigsten Einstiege. Und diese Stories sind vor allem: persönlich bis hin zu privat und hoch emotional!

Ich fühle mich dann oft wie auf einer Trauerfeier und bin entsprechend nah am Wasser gebaut. Beispiel: Die afro-amerikanische Rednerin erzählt von ihrem letzten Strandurlaub. Ihre Familie war die einzig schwarze Familie im ganzen Resort. „Ich habe mich unwohl gefühlt, unsicher. Ich hatte das Gefühl, angestarrt zu werden. Und die Leute haben auch gestarrt. Eines Tages kam dann eine 2. schwarze Familie an. Wir kannten sie nicht, aber sind ihnen mit offenen Armen entgegengerannt vor Freude. Und denen ging es genauso.“ Und das im 21. Jahrhundert im liberalsten Staat der USA…

Für mich als Norddeutsche ist das manchmal kaum auszuhalten. Ich merke, dass ich fremde Tränen außerhalb von Seelsorgesituationen echt schwer ertrage. Für alle anderen scheint das hier normal zu sein, wenn eine Mutter in Tränen ausbricht oder einem Vater die Stimme bricht beim Reden. Man hört aufmerksam zu, sagt am Ende „Thanks for sharing“, umarmt einander und dann geht es weiter. Vielleicht ist das ja das Problem: Dass die vielen Emotionen zur Entemotionalisierung führen. Hier rollen so häufig Tränen, dass sie nichts mehr auszulösen scheinen bei den anderen. Jedenfalls keine Kehrtwende im Leben oder im Verhalten oder im Umgang miteinander.

Wer ist gegen Trump?

In Berkeley ist das eine rhetorische Frage. Wenn hier Trump-Liebhaber leben, dann verstecken sie sich gut. In den S-Bahn-Stationen hängen riesige Annoncen mit Sätzen wie: „Wir haben Trump schon mehr als 100x angeklagt, weil unsere Erde einen guten Anwalt braucht.“ In jedem 5. Fenster hängen Plakate mit „Berkeley stands united“ oder „Black lives matter“. Ich hatte bisher noch keinen Smalltalk, in dem mein Gesprächspartner nicht in den ersten 5 Minuten seine negative Meinung über Trump kundgetan hat. Oder, wie mein Nachbar gestern: „Es ist unglaublich. Jeden Tag denke ich, Trump ist eine Comicfigur und der Spuk entpuppt sich als witziges Buch.“

S-Bahn-Station McArthur

Anfangs dachte ich, aus der Anti-Trump-Meinung liberale, eventuell sogar soziale Ansichten ableiten zu können. Aber weit gefehlt.

Eine Dame beklagte sich über den katastrophalen Zustand der US-Regierung, verglich Trump gar mit Hitler. Um mir danach mitzuteilen: „Deutschland gibt es ja gar nicht mehr.“ Ich war zu verblüfft, um zu kontern, fragte nur nach, was sie meine? „So viele Muslime wie da leben, das ist kein Deutschland mehr. Und die integrieren sich nicht.“ Meine statistischen Argumente und eigenen Erfahrungen ließ nicht gelten. „Ich habe Familie dort. Die berichten mir, wie es ist. Ich weiß Bescheid.“ Aha. Am meisten ärgtere sie, dass die Muslime ihre Traditionen und Religion beibehalten wollen. Da hätte ich beinah laut losgelacht: Denn wir unterhielten uns mitten in San Francisco auf Deutsch bei Gugelhupf und Quarkkuchen.

Ein Missionar in Berkeley erzählte mir von der Liebe Gottes zu den Menschen und der Dummheit Trumps. Da waren wir uns noch einig. Dann meckerte er über die südamerikanischen illegalen Einwanderer. Ich konnte das Problem immerhin nachvollziehen. Schließlich wütete er über Merkels Flüchtlingspolitik. Das einzig Gute daran sei, dass die Muslime nun in Europa lebten und wir sie missionieren könnten. Und am Ende seines Rundumschlags wetterte er gegen die Demokraten in den USA. Sie würden immer „sozialistischer“. So, wie er das aussprach, war es das reinste Schimpfwort. Explizit meinte er sozialstaatliche Ideen wie eine allgemeine Krankenversicherung und eine Art Sozialhilfe. Und ich fragte mich: Welchen Teil von „die Armen sollen frei werden und die Kranken gesund und die Zerbrochenen frei und heil“ hat er in der Bibel überlesen? Zumal einem die Folgen einer solchen Politik hier täglich erschütternd vor Augen stehen.

Kleiderfragen

Eine wichtige Grundregel haben wir in den letzten Tagen gelernt: Die Kleidung der Mitmenschen sagt rein gar nichts über die Temperaturen aus.

Am Sonntag waren wir im Zoo von San Francisco. Ein herrlicher Tag. In der prallen Sonne liefen die Kinder ohne Jacke umher. Um uns herum ein Bild, wie aus einem 4-Jahreszeiten-Wimmelbild. Ein Mädchen in pinker Fellmütze und dickem Mantel schaukelt. Gegenüber klettert ein gleichaltriger Junge in Sandalen, kurzer Hose und Unterhemd umher. Seine Mutter schaut ihm zu: UGG-Stiefel an den Füßen, Pudelmütze auf dem Kopf. Daneben ein anderer Vater, barfuß, kurze Hose.

Die Sonne ist inzwischen fast untergegangen. Toni und Theo verlangen nach Schal und Mütze, ich bibbere in meinem Mantel. Und ich frage mich: Sind die Kalifornier so abgehärtet wie die Briten? Kann man an der Kleidung erkennen, von woher die Vorfahren eingewandert sind? Liegt es vielleicht an den kurzen Hosen im Winter, dass wir dieses Bild vom ewig warmen Kalifornien haben?

Weitere Feldforschungen folgen.

Darf ich euch Kekse vorbeibringen?

Diese Frage schrieb mir eine Bekannte. Immer wieder hatte sie mir ihre Hilfe angeboten. Und obwohl ich mich eigentlich nicht ziere, fiel es mir gar nicht so leicht, ihre Hilfe anzunehmen. Denn eigentlich kennen wir uns gar nicht. Haben uns einmal gesehen und eine gemeinsame sehr gute Freundin. Und trotzdem ist Tiki hier für uns. Kam mit Chocolate Chip Cookies vorbei, führte die ersten Telefonate mit der Schulbehörde, gab mir Tipps für Chöre, schrieb Emails für uns. Bat ihren Sohn, uns beim Abholen eines Kinderbettes samt Matratze zu helfen mit seinem Auto. Machte er auch, verbrachte einen ganzen Abend damit. Und schrieb mir danach per Mail: Ich hatte großen Spaß!

So lässt sich Hilflosigkeit ertragen und Hilfe dankbar annehmen. Solche Menschen in der Fremde zu treffen, ist ein Geschenk Gottes.