4. November

7.25 Uhr: Ich hatte meinen Wecker auf 8.30 Uhr gestellt. Um Rausch und Frust auszuschlafen. 7.25 Uhr schreckte ich hoch. Stand auf, holte mein Telefon und sah die Nachrichten. Vorsichtige Hoffnung gepaart mit grosser Angst. Und die Erkenntnis, dass die Demokraten den Senat nicht mehrheitlich gewinnen. Also wieder Schach Matt Situation, selbst wenn Biden gewinnt.

8.00 Uhr: Die Kinder wachen auf. Fragen nach dem Wahlergebnis. Theo sagt: Mama, wenn Trump gewinnt, gehen wir nach Deutschland, ja? Toni aergert sich, dass sie nicht waehlen darf. Wir fruehstuecken, die Kinder gehen in ihre Zoom meetings. Und ich mache endlich, was ich mir seit Monaten vorgenommen habe: Ich geh raus in den Garten, tippe auf Youtube „workout ohne Geraete 20 Minuten“ ein und mache Sport. Nach 15 Minuten bin ich halb tot, nach 20 kann ich kaum noch stehen. Ein sicheres Zeichen, dass das hier unbedingt notwendig ist, am besten jeden Morgen. Oder wenigstens Montag bis Freitag.

Kurz bevor wir losfahren wollen ins Camp, faellt mir ein, dass ich den Kindern kein Lunch gepackt hab. Krise bei beiden. Sie duerfen sich jeweils 3 Muesliriegel einpacken. Damit sind sie beruhigt. Schnell noch Brote geschmiert (Toni selbstgebackenes Roggensauerteigbrot mit Salami, Theo „amerikanisches Brot“ = Toast mit Nutella), Bananan, Wasser, Masken, LOS!

10.20 Uhr: Kinder viel zu spaet abgegeben. Und nun schalte ich das Radio ein. Hoere, dass Trump um 9% an Zustimmung bei Latinowaehlern gewonnen hat. WAAAAS? Mit seiner ganzen Hassrede gegen Immigranten und Mexikaner und, oh Mann. Zu Hause angekommen, bleibe ich im Auto sitzen und lese. Abwechselnd CNN, NY Times, Facebook, ABS News. Ich fuehle mich manisch, getrieben, halte die Unwissenheit nicht aus. Traenen steigen mir in die Augen vor Wut, dass dies ueberhaupt ein knappes Rennen ist. Und nicht eine drastische Niederlage fuer Trump.

11.45 Uhr Biden gewinnt Wisconsin. Ich atme tief durch. Steige aus dem Auto. Kopf hoch. Die Chancen stehen gut. Biden braucht nur noch Nevada und Michigan und Arizona. Fuer die magischen 270 Stimmen.

12 Uhr: Ich versuche, mich auf Weihnachten zu konzentrieren. Auf die Planungen fuer die Adventszeit. Irgendwas schoenes. Dann koch ich Spaghetti, hilft alles nix.

12.45 Uhr: Philipp und ich essen in herrlichster Sonne im Garten. Ploetzlich hoeren wir Hupen in der ganzen Stadt. Haben wir was verpasst? Ich springe auf, checke CNN. Komischerweise seh ich da immer als erstes die Warnung, dass Grosstiere vom Aussterben bedroht sind. Hat das was mit der Wahl zu tun? Nee, nichts verpasst. Dann die Nachricht: Michigan faellt zu Biden. 253 Stimmen hat er damit. Noch 17 braucht er. Und dann spricht Biden. Wie ein Praesident, besonnen, zur Einheit aufrufend, so ganz normal. Es ist traumhaft. Nur noch Nevada und Arizona muessen nun fuer Biden gestimmt haben. Dann ist es geschafft. Ob mit oder ohne Pennsylvania. Ein Thriller ist nichts dagegen.

13.50 Uhr: Ein Freund schreibt mir, wir haetten nun die Phase der russischen Roulette begonnen. Trump will in den Swingstates, die er verloren hat, die Stimmauszaehlungen juristisch anfechten. Das irre Spiel geht weiter. Ich frage mich, wie Amerikaner diesen Nervenkitzel alle 4 Jahre seelisch und moralisch durchhalten. Es ist der politisch schlimmste Ausnahmezustand meines Lebens. Und ich verstehe erstmals wirklich, warum so viele Menschen so erschoepft sind vom Dialog mit der jeweils anderen Seite. Das Land ist so tief gespalten. So tief, dass Trump nach 4 katastrophalen Jahren mehr Zustimmung hat als zuvor (in absoluten Zahlen, weil dieses Jahr mehr Menschen gewaehlt haben).

14.30 Uhr: Ich schreibe Predigt fuer Sonntag, versuche es jedenfalls. Dies ist der emotional anstrengendste Tag sein langem.

16.30 Uhr: Beim Predigt schreiben hab ich nur alle 5 Minuten die Updates gecheckt. Ab, Kinder holen.

18 Uhr: Abendessen, wir entspannen uns kurz. Die Kinder muessen Hausaufgaben machen.

19.30 Uhr: Happy Hour meiner Gemeinde per Zoom. Thema ist Sport und Umzug. Alle geben sich Muehe, nicht ueber die Wahl zu reden. Bis wir es dann doch tun. Uns unsere Stresslevel und Schlaflosigkeit eingestehen. Eine hat sich extra heute frei genommen, um die Auszaehlungen verfolgen zu koennen. Bei allen steht der Sekt kalt. Wir sind uns einig, zur Not wird der morgens um 8 Uhr getrunken. Wann immer die erloesende Nachricht kommt. Der Krimi geht schon viel zu lange. Klar, vorher hatten uns alle gewarnt, dass es Tage dauern wuerde. Aber da wusste ich noch nicht, wie sehr das meinen Alltag bestimmen wuerde. Ich fuehl mich quasi arbeits- und denkunfaehig. Nicht schoen.

21.30 Uhr: Ich starre auf die Zahlen, unveraendert 253 zu 213. Was braucht Nevada bitte so lange. So wenige Stimmzettel koennen doch nicht so lange dauern. Philipps Theorie: Die haben zu wenig Wahlhelfer, weil da eh kaum jemand wohnt. Georgia wird langsam so eng, dass Biden ne Chance hat. Arizona scheint stabil zu sein. ZAEHLT SCHNELLER! UND GENAU! ICH KANN NICHT MEHR!

22 Uhr: Ich geh ins Bett und les noch mein neues Buch: Red State Christians. Understanding the Christians who voted for Trump. Fuer die Zukunft, wenn wir wieder miteinander reden, hoffentlich.

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