3. November 2020

7.45 Uhr: Endlich. Endlich ist dieser Tag da. Auf den ganz Berkeley seit 4 Jahren wartet. Und ich bin muede. Vom Umfragen lesen der letzten Wochen. Von der Politik der letzten Jahre. Von den Debatten der letzten Monate. Vom Unsinn hoeren und lesen. Von der Untergangsstimmung. Von der echten Sorge. Von der Angst um meine Freunde, die nicht ins idyllische Bild vieler Republikaner passen.

8 Uhr: Aufstehen. Kinder wecken. Fruechstueck machen. Kinder vor Zoom setzen, durch Facebook scrollen. Meine Freunde sind fertig und besorgt. Manche haben sich extra frei genommen, um den ganzen Tag in der Natur zu verbringen. Um nicht durchzudrehen. Die meisten haben schon vor Wochen gewaehlt.

9.50 Uhr Kinder ins Waldcamp fahren. Auf der Rueckfahrt Radio hoeren. Ein Reporter empfiehlt, heute Abend nicht zu viel Zeit mit ersten Zahlen zu verbringen. Sie werden kaum was aussagen. Morgen frueh koenne man ja mal in Ruhe die Nachrichten checken. Gute Idee, denke ich.

10.30 Uhr Beim Einbiegen in meine Strasse sehe ich eine Nachbarin. Ich halte kurz an, kurbele das Fenster runter. „Wie geht es dir?“, frage ich. „Ich bin so unruhig. Gerade hab ich meinen Sohn in die Krippe gebracht und danach musste ich erstmal eine Stunde spazieren und Weinen, meine Aengste loswerden.“, berichtet sie. Sie erzaehlt, sie habe viel Polizei gesehen auf ihrem Weg. Im ganzen Land ist die Polizei in Bereitschaft. Wir waehnen uns hier sicher im Falle von Ausschreitungen. Die finden normalerweise (krass, dass ich das so sagen kann, aber nach dem Sommer haben wir etwas Erfahrung damit) in San Francisco und Oakland statt.

Wir tauschen unsere alkoholischen Plaene fuer die naechsten Tage aus (Wein in Mengen, sie Rum, ich Whiskey) und ich bringe ihr ein Stueck selbstgebackenen Kuerbis-Cheesecake vorbei. Man braucht schliesslich Auswahl beim Panikessen in den naechsten Tagen.

11 Uhr: Bibelstunde mit meinen Kollegen. Das Evangelium ist die Geschichte der weisen und toerichten Jungfrauen. Na super, unpassender kann ein Text echt nicht sein. Spaltung und Gericht und Weltuntergangsstimmung pur. Das brauchen wir nun wirklich nicht noch im Gottesdienst zu hoeren. Das haben wir schon im Alltag rauf und runter. Ich werde diese Woche noch mit dem Text hadern und ihm die Gute Nachricht abringen. Vielleicht doch genau das, was ich jetzt brauche.

12 Uhr: Ich versuche, Gebete fuer Sonntag zu schreiben. Mein Kopf ist leer. Wie soll ich denn heute wissen, wie morgen oder uebermorgen dieses Land aussieht? Oder die Welt? Freunde schreiben mir aus Deutschland, fragen, wie hier die Lage ist. Ich denke, sonnig, herrlich, eigentlich. Total verrueckt, andererseits.

12.20 Uhr: Ich telefoniere mit meinem Organisten, wir besprechen die Musik fuer Sonntag. Auch er ist gestresst. Derweil arbeiten mehrere Pastoren und der Bischof meiner hiesigen Landeskirche gerade als Wahlhelfer. Ich wollte das auch, aber ohne Green Card geht das leider nicht.

13.15 Uhr: Freunde schreiben, fragen, ob wir heute Abend zusammen fernschauen. Ich lehne erst ab. Will meinem Vorsatz treu bleiben. Sie ueberzeugen mich, dass ich mir diese amerikanische Erfahrung nicht entgehen lassen darf. Inklusive Cocktails. Ich gebe nach. Ab 20 Uhr also Wahnsinn.

14 Uhr: Ich lese 15 Kommentare zu den Jungfrauen und bin noch immer wuetend auf diesen Text. Aber es hilft, Gedanken zu ordnen. Ich hab einfach den besten Beruf der Welt!

15.30 Uhr: Ein Gemeindeglied ruft mich an, sie koordiniert das Maskennaehen unserer Gemeinde. Bisher wurden knapp 4000 Masken verschenkt. Sie ist die Erste heute, die die Wahl nicht erwaehnt. Bis wir dann doch drauf zu sprechen kommen, weil eine andere sehr aktive Dame unserer Kirche Wahlhelferin ist.

16.30 Uhr: Ich fahre los, die Kinder abholen und schalte extra auf Musik um, bitte keine Nachrichten!

17.30 Uhr: Mein Gottesdienst-Team trifft sich ueber Zoom. Als ich einschalte, hoere ich den Fernseher laufen. Bitte, ausschalten! Sie schaltet ihn leise. Ich kann mich sonst nicht konzentrieren. Der Adrenalinspiegel steigt merklich. Was, wenn? Und was, wenn nicht? Werden radikale Trumpanhaenger Terror verbreiten? O Mann…

19 Uhr: Abendessen mit den Kindern.

20.45 Uhr: Kinder liegen im Bett, nun aber nichts wie rueber zu unseren Freunden. Der TV-Wahnsinn kann beginnen. Auf dem Weg lesen wir erste Nachrichten. Ich kriege Panik. Mein Adrenalinspiegel steigt. Mein Herz pocht hektisch. Trump scheint zu fuehren. Das kann doch nicht wahr sein.

20.50 Uhr: Wir sind bei Peter und Nicole angekommen. Pflaumenschnaps oder Whiskey oder Rum? Pflaumenschnaps. Richtig guter. Das hilft gegen das Herzrasen. Wir gucken NBC und ABC abwechselnd. Beide gelten als relativ mittige Sender. Zwischendurch checken wir NY Times und CNN. NY Times ist immer etwas hoffnungsvoller fuer Biden. Das brauchen wir, auch wenn es nicht sicher ist. Egal. Man haengt sich an jeden Strohhalm. Nach dem 1. Glas Schnaps will ich nur noch heulen. Also trink ich ein 2. Jetzt geht es besser. Peter lacht nur noch hysterisch. Nicole ist genauso panisch wie ich. Was, wenn? Seit Monaten reden wir Liberalen davon, dass wir die Spaltung ueberbruecken und Wunden heilen muessen. Mit Biden als Praesident. Kann ich Spaltung ueberbruecken mit Trump als Praesident? Kann ich mir gerade nicht vorstellen. Schock ueber die knappen Rennen, selbst in Staaten, die Biden gewinnt. Ca. 50% der Amerikaner haben fuer Trump gestimmt, soviel ist klar. Hoffentlich nur 48-49%. Und dennoch, fast die Haelfte der Bevoelkerung. Ich kann es nicht fassen. Obwohl ich es eigentlich haette wissen muessen.

Biden spricht. Er sieht muede aus, bleibt ruhig und besonnen und hoffnungsvoll. Alles, was wir gerade brauchen.

Jetzt kommt Trump. Er wirkt wie auf Beruhigungsmitteln. Nennt Statistiken rauf und runter. Ich kann kaum folgen. Behauptet, es sehe fantastisch aus fuer ihn. Obgleich er zu dem Zeitpunkt 8 Wahlmaenner hinter Biden liegt. Aber er wirkt entspannt. Wir wollen schon wegschalten. Er scheint gut gebrieft worden zu sein, sich im Zaum zu halten. Und dann passiert es doch. Er behauptet, die Wahl sei korrupt. Fordert, dass das Auszaehlen der Stimmzettel beendet werde sollte um Mitternacht. Und dann ernennt er sich selbst zum Sieger der Wahl. Egal, wie sie ausgeht. Alles geht so schnell, dass wir erst nicht sicher sind, ob er es wirklich gesagt hat. Hat er. Wirklich. Und Millionen Amerikaner schauen zu. Wer wird als Erstes gewalttaetig auf den Strassen?

23.30 Uhr: Wir verabschieden uns alle und gehen schlafen. Ich bin ploetzlich so muede. Biden fuehrt, schnell einschlafen, bevor sich das aendert. God bless America! Aber ein bisschen ploetzlich!

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