7. November

Freitag sind wir spaet ins Bett gegangen und dennoch schrecke ich 7.15 Uhr hoch. Vielleicht ist es endlich soweit? Ein schneller Blick aufs Telefon. 253, unveraendert. Das kann doch nicht wahr sein. Ich doese noch etwas, lese Facebook, loesche die NY Times newsletter – es ist doch zum Maeuse melken…

8.30 Uhr: Wir trudeln alle in der Kueche ein, setzen Wasser auf. Ich ueberrrede Toni, ihr grosses Eierkuchen und Spiegelei Fruehstueck Sonntag einzunehmen. Denn heute ist Reittag. Wie an den meisten Samstagen fahren wir zusammen mit unserer Familienbubble auf eine Ranch 30 Minuten entfernt von Berkeley. Peter gibt den Kindern dort Reitstunden. Es ist jedes Mal ein Miniurlaub ohne Telefonnetz. Dafuer mit vielen gebuertigen Mexikanern, tanzenden, auf Hochglanz polierten Pferden, Pfauen, 2 riesigen, kinderlieben Hunden, einem faul herumliegenden Schwein. Mit Eseln, Zebra, Bullen und abgestellten Treckern, auf denen Pauli und Theo ihre Autofantasien ausleben. Ein kleines Paradies.

8.55 Uhr: Ich habe eine Textnachricht. Von meiner Nachbarin im Gruppenchat unserer Strasse. Nur ein Bild: MSNBC deklariert Biden zum Gewinner der Wahl. Ich will juchzen, aber checke vorsichtshalber erstmal die anderen Zeitungen. CNN, NY Times, ABC News, ja, alle sind sich einig. Dann stimmt es! Wir tanzen und schreien herum. Ich texte: Ich oeffne den Champagner und bin in 3 Minuten vor der Tuer.

9.00 Uhr: Wir treffen uns auf der Strasse. 3 Frauen, 3 Kinder. Es gibt Sekt und Kindersekt in Glaesern. Wir sind so erleichtert, dass wir erstmal gar nicht richtig ausrasten koennen. Langsam sickert es ein. Trump muss gehen. Die Angst vor weiteren 4 Jahren Wahnsinn darf weichen.

9.05 Uhr: Eine andere Nachbarin kommt mit ihrem kleinen Sohn dazu. Wir stossen an, sagen immer wieder: Ich bin so erleichtert!!!! Mehr faellt uns erstmal nicht ein.

9.10 Uhr: Wir schicken Toni los, Nachbarn rausklingeln. Die Pappnasen schlafen wahrscheinlich noch. Nach und nach stecken sie ihre Koepfe durch die Tuer (der schoenste Schlafanzug war ein quergestreifter Zweiteiler eines Papas) und rennen dann raus. Unsere Erleichterung schlaegt in Freude und Jubel um.

9.20 Uhr: Allen Gassigehern und Joggern rufen wir zu und verteilen Sekt. Anne schaltet Musik an, einige tanzen. Unsere aelteren Nachbarn stehen auf ihrer Veranda und winken gluecklich.

9.30 Uhr: Lautes Geschaepper. Studenten rennen und tanzen unsere angrenzende Strasse entlang und schlagen mit Holzkellen auf Toepfe. Autos hupen. Wer jetzt noch schlaeft, hat sich am Abend vorher mit Schlafmitteln beruhigen muessen.

9.40 Uhr: Ein aelteres Ehepaar kommt vorbei, haelt an, steosst mit uns an. Sie wuenschen sich „Heho, the witch is dead“. Wird glatt erfuellt.

9.50 Uhr: Ich frage Toni, ob wir noch reiten gehen wollen. Sie bejaht und wir muessen also mal fruehstuecken. Nicht, bevor wir mit den Nachbarn ausgemacht haben, am Abend Bidens und Kamalas Reden auf unserer Garagentuer gemeinsam zu gucken.

10.20 Uhr: Wir fahren los. Jedes Mal, wenn wir einen Spaziergaenger sehen, hupe ich: dadadadaaaaaaaadada. Wir haben kein Schild und trotzdem weiss jeder, was gemeint ist. Toni haengt sich aus dem Fenster und jubelt dazu. Eine Stadt im Freudentaumel.

10.30 Uhr: Auf der Autobahn. Wir reden darueber, dass sich heute nicht alle Menschen ueber das Wahlergebnis freuen. Dass fast die Haelfte der Waehler fuer Trump gestimmt hat und nun entsprechend traurig ist. Dass es gut sein kann, dass auf der Ranch nicht alle zufrieden sind heute. Dass es voellig in Ordnung ist, sich trotzdem zu freuen. Aber, dass wir Trump nicht beschimpfen und auch sonst keine Schadenfreude zeigen. (Ein Wort, das es auch Englisch nicht gibt.)

10.50 Uhr: Ankunft, Toni darf gleich reiten, es ist herrlich, wie immer.

12.00 Uhr: Alfredo, der Chef begruesst uns. Wir reden ein bisschen und kommen dann auf die Wahl zu sprechen. Und dann fuehren wir den Tanz auf, den man hier macht, wenn nicht klar ist, wofuer der andere ist. Wir einigen uns, dass es vor allem gut ist, nun eine Entscheidung zu haben, wie anstrengend das Warten war. Dann erzaehlt Alfredo, dass viele Suedamerikaner fuer Trump seien. „Er ist natuerlich dumm, aber einige seiner Ideen waren gut. Vor allem die Steuersenkungen.“ Ich frage nach, will mehr darueber wissen. Doch da lenkt Alfredo ein. „Das Beste an dem Ergebnis ist Kamala.“ (Ich nicke in wilder Zustimmung.) „So viele Menschen koennen sich mit ihr identifizieren. Sie koennte wirklich was veraendern.“

16.00: Eine Freundin postet ein Bild von ihrer Pilgertour zum Haus, in dem Kamala Harris hier in Berkeley aufgewachsen ist. Die Idee hatten anscheinend viele. „Wir sind Vize-Praesident“. Liebevoll wir hier von „Tante Kamala“ gesprochen.

16.30 Uhr: Wir treffen uns draussen mit Nachbarn zum Aufbau unseres Freilichtkinos. Einer bringt den Projektor, jemand anderes einen Klapptisch, ich das Verlaengerungskabel und Stuehle.

17.04 Uhr: Puenktlich geht die Sonne unter, so langsam koennen wir die Bilder auf der „Leinwand“ erkennen. Die 5 Kinder legen sich auf den Boden, die Erwachsenen sitzen und stehen mit Wein in der Hand. Es herrscht eine Vorfreude wie zu Weihnachten.

17.30 Uhr: Endlich, Kamala betritt die Buehne. Sie spricht und mir rollen Traenen die Wange herunter. Vor allem, weil Toni neben mir sitzt und immer wieder sagt: „Wow, die ist gut. Die kann so toll reden. Und es stimmt alles. Keine Luegen.“ Und ich denke, wie ironisch es ist, dass 2020 eine Frau so weit kommt in der amerikanischen Politik. In dem Jahr, in dem die Beschaeftigungsrate von Frauen in den USA auf den Stand der fruehen 1980er gefallen ist. Weil Frauen zuerst gekuendigt werden. Weil Frauen selbstverstaendlich wegen der Kinder zu Hause bleiben, wenn alle Schulen geschlossen sind.

17.50 Uhr: Biden joggt auf die Buehne. Er sieht erstaunlich fit aus nach vermutlich zahlreichen schlaflosen Wochen. Und es tut so gut, eine versoehnliche, besonnene und in sich logische Rede zu hoeren. Es ist Balsam fuer meine Seele.

18.00: Zur Feier der Tages hat Peter Fleisch- und Apfelstrudel gebacken. Wir schmausen gemeinsam. Was fuer ein Glueck, dass wir unsere Bubble haben!

19.30 Uhr: Ab nach Hause, ab ins Bett. Ploetzlich bin ich hundemuede. Es ist eine ueber Wochen angestaute Erschoepfung, die sich Bahn bricht.

21.00: Ich schlafe noch vor den Kinder ein und selig bis 7.30 Uhr am naechsten Morgen. Denn 8.00 muss ich nach Fremont zu meiner Gemeinde fahren zum open-air Gottesdienst. Der Spuk ist zwar noch nicht vorbei. Aber das Ende ist in Sicht.

Nach dem Gottesdienst erzaehlen mir viele Gemeindeglieder, wie gut sie letzte Nacht geschlafen haetten. Wie energetisiert sie ploetzlich seien. Die unproduktivste Woche des Jahres 2020 hat ein Ende! Let’s roll.

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