Ich bin mir nicht ganz sicher, für wen der Vergleich schwerer zu ertragen ist: meine rumänischen oder meine amerikanischen Freunde. Aber ich hatte in den letzten Wochen immer wieder das Gefühl: Das ist hier schlimmer als in Rumänien. Der Straßenbelag ist eine Katastrophe, die Autobahnen hier haben Schlaglöcher (in Rumänien übrigens nicht, gibt halt kaum welche dort…), vor allem aber die Armut.
In Rumänien habe ich fürchterliche Armut gesehen. Obdachlose im eisigen Winter auf den Straßen von Bukarest. Bettelnde alte Mütterchen, die Mitleidsblumen verkauften, zerlumpte Kinder.
Hier ist die Armut noch erbärmlicher. Weil sie hoffnungslos ist und urban. Weil es nicht einmal mehr Blumen oder Äpfel zu verkaufen gibt, um sich selbst zu helfen. Weil hier Familien nicht mal mehr in Blechhütten hausen, sondern einfach auf der Straße. Wenn sie Glück haben, campen sie mitten auf dem Fußweg. Oder kommen für eine Nacht in einer Notunterkunft unter. Aus der sie morgens um 6.30 wieder rausmüssen. Andere leben in ihren Autos oder können sich ab und an ein Motel leisten.
Obdachlos wird man hier relativ „leicht“. Die Gründe sind interessanterweise dieselben, die uns in St. Petersburg im Mai 2018 genannt wurden: Krankheit, Jobverlust (Arbeitslosengeld gibt es nur 6 Monate und davon kann man keine Miete zahlen), horrende Mieten (Familien zahlen 50-70% ihres Einkommens für die Miete; bei uns sind es 60%…), Häusliche Gewalt. Klar, auch Drogen. Aber die meisten beginnen damit erst auf der Straße.
Im Süden von Berkeley erweitert sich die „Zeltstadt“ der Obdachlosen täglich. Auf den Straßen begegnen sie einem immer und überall. In der S-Bahn schlurfen die Verlorensten unter ihnen umher, denn hier ist es trocken und warm.
Wir erleben hier täglich eine menschliche Misere, von der ich nicht geglaubt hätte, dass es sie in einem westlichen Industriestaat gibt. Viele der Obdachlosen sind psychisch krank und bräuchten dringend Hilfe. Zugleich ist dies zum Großteil ein Grund für ihre Obdachlosigkeit. Unter dem damaligen Governor Ronald Reagan wurden in den 1980ern die meisten Psychiatrien geschlossen. Wer heute an einer Depression oder Burnout oder gar etwas Schlimmerem erkrankt und vorher nicht bzw. nicht besonders gut krankenversichert war, hat ein extrem hohes Risiko, auf der Straße zu landen.
Das macht den Umgang mit vielen Obdachlosen ambivalent. Einerseits empfinde ich enormes Mitleid und möchte helfen. Andererseits warnen mich alle vor zu viel Kontakt. Weil man eben nie weiß, ob und wie krank der andere ist und zu welchen Handlungen er deshalb fähig ist. Zuerst dachte ich: Das ist wieder typisch. Man schützt sich mit eingeredeter Angst davor, das Elend anzusehen. Aber einige skurrile Erlebnisse später bin ich etwas vorsichtiger geworden.
Situation 1: Toni und ich gehen zur S-Bahn nach der Kirche, es stinkt (wie immer) nach Marihuana und ich erkläre Toni, was das ist. Da sagt sie: „Mama, der Mann hat gerade direkt vor meiner Nase auf die Straße gepinkelt.“
Situation 2: Toni und ich sind mit unseren Rädern unterwegs und nehmen den Fahrstuhl. Es stinkt entsetzlich nach Urin. Auf dem Rückweg weigert sich Toni standhaft, noch einmal einzusteigen. „Mama, du glaubst doch nicht, dass ich nochmal in so ein Stinkeding geh.“ Ich muss wohl oder übel 2 Räder die lange Treppe runtertragen.
Situation 3: Toni und ich steigen in die S-Bahn und setzen uns hin. Im Vierer neben uns sitzt eine Familie. Keine Minute später hat Toni den nackten Hintern des Vaters quasi im Gesicht. Wenige Zentimeter waren dazwischen…
Situation 4: Ich warte auf die S-Bahn, bin ziemlich in Gedanken versunken. Die Bahn fährt ein, die Tür öffnet sich, ein Mann kommt schwankend raus. Ich gucke ihn geistesabewesend an, stutze, gucke nochmal: seine Hose hängt ihm in den Kniekehlen (das ist hier noch nichts Ungewöhnliches), er trägt keine Unterhose (das ist ungewöhnlich). Trotz aller FKK-Erfahrung war ich kurz geschockt. Und froh, dass Toni diesmal nicht dabei war. Denn sein Penis baumelte auf ihrer Augenhöhe. Neben mir standen zwei Sicherheitsbeamte der Bahn. Sahen den Mann, lästerten über ihn, taten nichts. Keiner, der ihn gebeten oder ihm gar geholfen hätte, die Hose hochzuziehen.
Erschreckend viele junge Menschen, fast noch Kinder, leben auf der Straße. Ein Grund: Pflegefamilien werden nur bis zum 18. Geburtstag des Pflegekindes bezahlt. Danach landen die Jugendlichen oft auf der Straße. Ohne Highschool-Abschluss, ohne Ausbildung, ohne Geld.
Dass die Obdachlosigkeit ein politisches Problem ist, sickert dennoch erst langsam durch. Zu tief sitzt der Glauben an folgendes Märchen: „Hier gibt es so viele Obdachlose, weil das Wetter so gut ist. Die Menschen kommen aus den gesamten USA hierher, um hier auf der Straße zu leben. Dass es Notunterkünfte gibt, macht es nur attraktiver.“
Rein statistisch ist das falsch. Selbst die Doku, die wir auf auf Fox-News sahen, musste das zugeben. Über 90% der Obdachlosen waren zuvor als Bürger mit Wohnsitz dort gemeldet, wo sie nun auf der Straße leben. Das anzuerkennen, würde bedeuten, dass die gesamte Sozialpolitik gescheitert ist. Und das kann sich kein Politiker leisten…