Hey Sister!

Sonntag in der S-Bahn. Wie eigentlich bei jeder Fahrt läuft eine Obdachlose durch den Zug. Ruhig steht sie da und erzählt: „Ich habe 3 Kinder: 7, 9 und 13. Heute Nacht haben wir in einer Unterkunft geschlafen. Seit 2 Monaten sind wir obdachlos, nachdem wir vor häuslicher Gewalt geflohen sind. Jetzt sind die Kinder in der Schule und ich versuche, Geld für unser Abendessen zu besorgen und Essen für eine Schlafunterkunft. Ich bettel nicht. Ich bin nur eine Mutter, die versucht, für ihre Kinder zu sorgen. Bitte helfen sie mir. Gott segne sie.“

So schnell und sehr man hier abstumpft angesichts all des unfassbaren Elends, diese Frau bewegte die Menschen. Viele gaben ihr etwas Geld. Neben mir saß eine andere Obdachlose mit all ihrem Hab und Gut in 2 Müllsäcken. Sie las ein Buch. Als sie die junge Mutter hörte, rief sie durch den Zug: „Hey, Sister!“ Schließlich standen sie einander gegenüber, redeten kurz, teilten ihr Leid und die ältere empfahl der jüngeren eine sichere Unterkunft für alleinstehende Mütter. Und ich stand daneben und hätte heulen mögen über diese Ungerechtigkeit und meine eigenen, geringen Möglichkeiten, zu helfen: Ein Dollar auf den heißen Stein des Überlebens.

Kulturschock: Öffentliche Emotionen

Letzte Woche Donnerstag gab es in Tonis Schule ein Treffen der „Parent Teacher Association“. Wir hatten keine Ahnung, worum es gehen würde. Aber es gab Pizza für alle und Kinderbetreuung – mehr gute Gründe brauchten wir nicht, um hinzugehen.

Das Thema des Abends war „kulturelle Diversität“ und ein richtiger Umgang damit. Dazu schreib ich demnächst mehr, weil ich ab Ende Februar einen 6-wöchigen Abendkurs zum Thema belege.

Grundsätzlich, das habe ich inzwischen gelernt, werden hier vor allem „Stories“ erzählt. „Let me share a story with you!“ ist einer der häufigsten Einstiege. Und diese Stories sind vor allem: persönlich bis hin zu privat und hoch emotional!

Ich fühle mich dann oft wie auf einer Trauerfeier und bin entsprechend nah am Wasser gebaut. Beispiel: Die afro-amerikanische Rednerin erzählt von ihrem letzten Strandurlaub. Ihre Familie war die einzig schwarze Familie im ganzen Resort. „Ich habe mich unwohl gefühlt, unsicher. Ich hatte das Gefühl, angestarrt zu werden. Und die Leute haben auch gestarrt. Eines Tages kam dann eine 2. schwarze Familie an. Wir kannten sie nicht, aber sind ihnen mit offenen Armen entgegengerannt vor Freude. Und denen ging es genauso.“ Und das im 21. Jahrhundert im liberalsten Staat der USA…

Für mich als Norddeutsche ist das manchmal kaum auszuhalten. Ich merke, dass ich fremde Tränen außerhalb von Seelsorgesituationen echt schwer ertrage. Für alle anderen scheint das hier normal zu sein, wenn eine Mutter in Tränen ausbricht oder einem Vater die Stimme bricht beim Reden. Man hört aufmerksam zu, sagt am Ende „Thanks for sharing“, umarmt einander und dann geht es weiter. Vielleicht ist das ja das Problem: Dass die vielen Emotionen zur Entemotionalisierung führen. Hier rollen so häufig Tränen, dass sie nichts mehr auszulösen scheinen bei den anderen. Jedenfalls keine Kehrtwende im Leben oder im Verhalten oder im Umgang miteinander.

Hausaufgaben nerven!

Seit knapp 2 Wochen geht Toni nun schon in die Schule. Jeden Morgen wird sie vom Schulbus abgeholt und jeden Nachmittag wieder zurückgebracht. Eine wunderbare Erfindung. Warum gibt’s das eigentlich nicht in Deutschland?

Täglich kommt Toni mit ein paar lustigen neuen Wortversuchen nach Hause.

„Mama, wir hatten heute planschen.“ Dabei macht sie wilde Boxbwegungen. Ich: „Ah, punching!“

„Papa, Pferd heißt auf Englisch Horst.“

Und sie singt ständig „We shaw oercome…“ Martin Luther King zur Ehre.

„Ich habe heute wieder was abgeschrieben. Keine Ahnung, was.“

„Mama, ich rede einfach immer irgendwas, wenn ich gefragt werde. Heute mussten alle lachen. Ich wurde was gefragt und hab gesagt „I need to go the bathroom“. Zum Glück nimmt Toni das Ganze mit Humor.

Letzte Woche nahm sie ihren kleinen Kuschelhasi mit in die Schule, „damit ich jemanden zum Unterhalten habe“.

Aber dass es 1x pro Woche Hausaufgaben gibt, nervt Toni extrem. An sich sind es undramatische Aufgaben. Doch wenn man kein Englisch spricht und das Alphabet noch nicht kann, ist Lesen lernen wirklich schwer. Toni schlägt sich tapfer und verzweifelt nur alle 3-5 Minuten… Sie muss ja alles andersherum lernen: erst schreiben und lesen, dann verstehen und schließlich irgendwann in naher Zukunft reden.